Eigentlich ist der Gerichtssaal das natürliche Terrain der Juristen: ein Raum, in dem sie Routine haben, in dem sie führen, einordnen, dominieren. Doch an diesem Prozess ist alles anders.
Kaum beginnt die Verhandlung, verschiebt sich das Machtgefüge – weg von der Richterbank, hin zu den drei Ärzten auf der Anklagebank. Und plötzlich wirkt es, als betreten nicht die Mediziner fremden Boden, sondern die Juristen.
Beschuldigt ist das OP-Team des kleinen Ali (†10 Wochen): ein Anästhesist, eine Kinderchirurgin und ein Kinderkardiologe des Luzerner Kantonsspitals. Sie sollen verantwortlich sein für den Tod des Säuglings während einer Operation im November 2021.
Richterin bittet um Nachsicht
Die Diskussionen im Gericht drehen sich darum, ob man ein anderes Narkosemittel wählen, dieses vielleicht doch über die Venen injizieren, die Operation nach einem Herzstillstand hätte abbrechen sollen. Es geht um eine seltene genetische Krankheit, um einen Herzfehler. Kurz: medizinisches Terrain.
Und so wirken die Stimmen der anwesenden Juristen etwas zittrig. Die Richterin bittet um Nachsicht, falls ihre Fragen «für medizinische Fachpersonen offensichtlich» seien. Ein Satz, der in keinem anderen Strafprozess fallen würde. In diesem aber den Ton setzt.
Im Publikum sitzen zahlreiche Ärzte. Sie lachen die Staatsanwältin aus, als diese sagt, Babys würden oft erst ab 5 Kilo Körpergewicht operiert.
Die Vorträge der Juristen basieren auf unterschiedlichen Gutachten. Diese widersprechen sich, teilweise diametral. Die Verteidigung nutzt das geschickt, um die Deutungshoheit zu verschieben: Wenn schon die Experten uneinig sind – wie sollen dann Juristen urteilen?
Staatsanwältin nennt Freispruch «angebracht»
Der Vorwurf bleibt unausgesprochen, aber der Subtext ist deutlich: Ohne tiefes Fachwissen soll das Gericht nicht zu streng urteilen. Und die Richterinnen scheinen diese Sichtweise still hinzunehmen.
Die Staatsanwältin etwa weist zwar auf gravierende Fehler hin. Doch am Ende ihres Plädoyers sagt sie den bemerkenswerten Satz, ein Freispruch sei «natürlich angebracht», wenn das Gericht zu einem anderen Schluss komme.
Der Opferanwalt versucht, den Fall herunterzubrechen. Er appelliert an den Menschenverstand: «Wenn ein Kind wegen der Narkose einen Herzstillstand erleidet und reanimiert werden muss, bricht man die Operation doch ab!»
Doch am Vorwurf der eventualvorsätzlichen Tötung will auch er sich nicht die Finger verbrennen. Niemand im Raum scheint diesen Punkt der Anklage aktiv zu stützen – obwohl er das Herzstück des Strafverfahrens ist!
Bemerkenswert ist, wie selbst die Staatsanwältin diesen Vorwurf umschifft, obschon sie doch die Anklage erhoben hat. Man stellt sich also die Frage, warum dieser Prozess überhaupt stattfindet. Erst recht, als man erfährt, dass sich beide Parteien – Ärzte- und Opferseite – eine Verfahrenseinstellung gewünscht hätten.
Niemand wollte diesen Prozess
Vier Jahre also dauerte es, bis der Fall vor Gericht kam. Unzählige Stunden an Arbeit, externe Gutachter, drei Verteidiger, ein Opferanwalt – Kosten, die wohl auf die Staatskasse gehen werden.
Denn im Kontrast zur Anklägerin treten die drei Ärzte geschlossen, souverän, fast unangreifbar auf. Sie beantworten keine Fragen, sondern lesen Statements vor.
Auch hier gibt das Gericht die Kontrolle ab: Die Bühne gehört den Angeklagten – kritische Fragen werden gar nicht erst gestellt. Doch das scheint niemanden zu stören.
Der Anästhesist rechtfertigt seine Entscheidung, die OP weiterzuführen. Der Kardiologe spricht davon, seine eigenen Kinder weiterhin dem Mitangeklagten anvertrauen zu wollen. Die Chirurgin kämpft mit den Tränen, aber betont, sie habe alles richtig gemacht.
Der vielleicht bemerkenswerteste Moment: Als ein Verteidiger behauptet, die Fotos des verstorbenen Ali seien «nur gezeigt worden, um zu emotionalisieren». Kein Anwalt, keine Richterin widerspricht. Niemand stellt klar, dass Bilder eines Opfers zur Beweisführung gehören – das gehört nicht zur Dramaturgie.
Eineinhalb Tage Prozess – und am Ende scheint nur ein Urteil wahrscheinlich: Freispruch. Denn einen Schuldspruch, so scheint es, will niemand.
* Name geändert