Zahlen gehen überall in der Schweiz zurück
Der Strassenstrich stirbt aus

Anwohner beklagten sich, die Städte ergriffen Massnahmen: Der Strassenstrich sorgte in der Schweiz immer wieder für Ärger. Doch diese Zeiten sind vorbei. Die Zahl der Sexarbeiterinnen, die sich auf der Strasse anbieten, ist deutlich gesunken.
Publiziert: 00:00 Uhr
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Die Zahl der Prostituierten, die auf der Strasse nach Kunden suchen, nimmt ab. Das Bild stammt aus Lausanne.
Foto: Keystone

Darum gehts

  • Strassenstrich schrumpft in der Schweiz
  • Verlagerung in private Räume und Internet
  • Zahl der Sexarbeiterinnen mit Bewilligung in Zürich sank um beinahe ein Drittel
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Marco LüssiBlattmacher

Gewalt, Lärm, Abfall, Stau: Die Auswüchse des Strassenstrichs machten in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts landesweit Schlagzeilen: In Zürich, wo die Stadt die lauten Klagen der Anwohner im Jahr 2013 erhörte und den berüchtigten Sihlquai-Strich schloss. In Olten, wo die Politik versuchte, den grössten Strassenstrich der Schweiz mit Halte- und Fahrverboten einzudämmen. Ein Mittel, mit dem auch die Stadt Luzern Ordnung zu schaffen versuchte. 

Die Zeiten haben sich geändert. Überall in der Schweiz schrumpft der Strassenstrich. Noch im Jahr 2020 besassen laut der Stadtpolizei Zürich 85 Sexarbeiterinnen eine Bewilligung, in den Strichzonen der Stadt der Prostitution nachzugehen. In den letzten fünf Jahren ist diese Zahl um fast ein Drittel gesunken – 2025 liegt sie noch bei 60.

«Sogar an der Langstrasse ist es ruhiger geworden»

Auf dem Strassenstrich in Olten, wo sich einst bis zu 80 Prostituierte anboten, hat sich die Zahl mehr als halbiert. Ähnliches Bild in Luzern: «2015 waren jeweils 15 bis 20 Sexarbeiterinnen anwesend, heute sind es noch zirka 10 Personen», sagt Eliane Burkart (38), Geschäftsleiterin des Vereins Lisa, der Prostituierte in Luzern berät.

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«Auf der Allmend ist auf dem Strassenstrich fast nichts los, im Niederdorf wenig», beschreibt Beatrice Bänninger (61), Geschäftsführerin der Stiftung Solidara Zürich, die ein Beratungsangebot für Sexarbeiterinnen betreibt, die Situation. «Und auch an der Langstrasse ist es etwas ruhiger geworden.»

Begonnen habe diese Entwicklung mit Corona, sagt Bänninger. Sexarbeit war damals monatelang verboten. Das Niveau von vor Corona sei nicht mehr erreicht worden, auch nicht bei den Preisen, die für sexuelle Dienstleistungen gezahlt werden. Der durch Covid ausgelöste Digitalisierungsschub habe sich im Sexgewerbe stark ausgewirkt: «Viele Männer befriedigen ihre Bedürfnisse vermehrt auf dem digitalen Weg.» 

Weniger Verkehr beim Zürcher Strichplatz

Bänninger beobachtet einen gewissen Rückgang der Nachfrage: «Das Portemonnaie sitzt bei vielen Freiern nicht mehr so locker.» Zwar gebe es noch immer Sexarbeiterinnen, die gut verdienten. «Dafür nehmen sie aber teilweise Praktiken in Kauf, die ihre Gesundheit gefährden können.» 

Als die Stadt Zürich den Strich am Sihlquai schloss, stellte sie einen Ersatz bereit: den Strichplatz im Industriegebiet von Zürich-Altstetten. Auf dem eingezäunten Areal stehen den Prostituierten und ihren Kunden «Verrichtungsboxen» zur Verfügung. Auch in den Boxen ist der Verkehr mittlerweile weniger rege. 

Während nach der Eröffnung vor zwölf Jahren bis zu 30 Sexarbeiterinnen auf dem Strichplatz tätig waren, sind es heute noch 13, wie das Zürcher Sozialdepartement auf Anfrage mitteilt. 

Trotz der geringeren Auslastung sei eine Schliessung des Strichplatzes, dessen Betrieb jährlich 775'000 Franken kostet, derzeit kein Thema, heisst es beim Sozialdepartement. Der Strichplatz sei ein Ort, der «einer der vulnerabelsten Zielgruppen wirkungsvoll Schutz vor Gewalt und Ausbeutung» biete. Die Sexarbeiterinnen würden unter anderem auch bei der «beruflichen Neuorientierung» unterstützt. Weil der Strichplatz voraussichtlich nach 2030 einem Depot der Verkehrsbetriebe Zürich weichen muss, wird ein neuer Standort gesucht. 

«Sexarbeiterinnen sind weniger sichtbar geworden»

Melanie Muñoz (50), Leiterin der Fachstelle Lysistrada, kümmert sich seit 16 Jahren um Sexarbeiterinnen auf dem Oltner Strassenstrich. Frauen, die nicht mehr an der Strasse stehen, hätten in der Regel nicht die Branche gewechselt, sagt sie. «Das Sexgewerbe hat sich zunehmend in private Räume verschoben.»

Dies bestätigt die Luzerner Sozialarbeiterin Eliane Burkart: Sex werde vermehrt in Privat- oder Airbnb-Wohnungen angeboten – während nicht nur der Betrieb auf dem Strassenstrich abnehme, sondern auch die Zahl der Bordelle sinke. Das Verhalten der Freier habe sich verändert. Es gebe ein stärkeres Bedürfnis nach «Diskretion und Anonymität». Sie suchten oft erst mal online nach Sexangeboten, sagt Burkart. «Dies erspart ihnen unter Umständen den Weg auf den Strassenstrich, und somit gibt es dort weniger Laufkundschaft.» Was zur Folge habe, dass weniger Sexarbeiterinnen auf der Strasse nach Freiern suchen. 

Melanie Muñoz betont: «Es gibt nicht weniger Sexarbeiterinnen. Sie sind lediglich weniger sichtbar geworden.» Weniger sichtbar sind sie entsprechend auch für jene, die ihnen helfen wollen. Die Zahl der physischen Kontakte zu Sexarbeiterinnen habe abgenommen, stattdessen setze man neu auch auf «online-aufsuchende» Beratung, sagt Muñoz.

Bestimmte Kunden stehen auf Strassenstrich-Ambiente

Die Fachstelle Lysistrada beteiligt sich an einem Pilotprojekt von Procore, einem nationalen Netzwerk, das sich für den Schutz und die Rechte von Sexarbeitenden in der Schweiz einsetzt: Einschlägige Online-Inserate werden von einem Bot abgegrast, der dann die Annoncen aus der Region herausfiltert. Daraufhin verschickt die Fachstelle eine Nachricht an die Sexarbeiterin, in der ihr Hilfe angeboten wird. 

Die ersten Erfahrungen sind laut Muñoz positiv: «Etwa zehn Prozent der angeschriebenen Sexarbeiterinnen reagieren – indem sie sich einfach bedanken oder eine konkrete Frage stellen.»

Jahrzehntelang haben Schweizer Städte versucht, den Strassenstrich mit Repression loszuwerden. Jetzt ist es die Digitalisierung, die ihn zum Verschwinden bringen dürfte. «Es spricht vieles dafür, dass der Strassenstrich ein Auslaufmodell ist», sagt Melanie Muñoz. «Doch darauf wetten würde ich nicht.» Dem pflichtet auch Eliane Burkart bei: «Der Strassenstrich ist ein spezielles Setting, das bestimmte Kunden insbesondere wegen des Ambientes spezifisch aufsuchen.»

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