Sie hatten unbeschwerte Tage im Skilager in St-Luc im Val d'Anniviers verbracht, waren nun auf dem Rückweg nach Belgien zu ihren Familien – als es um 21.14 Uhr zum Drama kommt. Ungebremst rast der Car-Chauffeur am Abend des 13. März 2012 im Tunnel bei Siders VS frontal in eine Nothalt-Nische. 28 Menschen sterben, 22 davon sind Kinder.
Der Unfall bewegte die Welt, sogar in den USA berichtete CNN über das Schicksal der belgischen Familien, in Grossbritannien war es BBC. Am Sonntag jährt sich das schlimmste Busunglück der Schweizer Geschichte zum zehnten Mal – die genaue Unfallursache ist bis heute nicht geklärt.
«Einschneidendster Einsatz meiner Feuerwehr-Karriere»
Diese Ungewissheit ist nicht nur für die Eltern der toten Kinder und die Überlebenden eine schier unerträgliche Qual. Auch die Rettungskräfte, die nach dem Unfall im Tunnel unermüdlich um das Leben von Verunglückten kämpften, stellen sich die Frage nach dem Warum bis heute.
Einer von ihnen ist Reynold Favre (55). Damals war er Kommandant der Stützpunktfeuerwehr Siders. Wenige Minuten nach dem Unglück war er vor Ort. «Es war auf emotionaler Ebene der einschneidendste Einsatz meiner Karriere als Feuerwehrmann. Einerseits gab es viele Opfer, andererseits waren Kinder involviert», sagt der zweifache Familienvater zu Blick. Er erinnert sich: «Mein Sohn war gleich alt wie einige der Opfer.»
Diese Emotionen und die Erinnerungen an das Drama verfolgen Favre auch noch zehn Jahre nach dem Rettungseinsatz. Gemeinsam mit Blick besuchte er am Donnerstag die Unfallstelle, drei Tage vor dem Jahrestag. Als er dort stand, seien bei ihm viele Erlebnisse wieder hochgekommen, sagt Favre im anschliessenden Gespräch. «Doch zum Glück habe ich keine Albträume davon. Auch wenn ich in der Unfallnacht schreckliche Dinge gesehen habe.»
«Viele waren tot, einige noch am Leben»
Es ist ein schlimmes Bild, das sich ihm präsentiert, als er an jenem Märzabend im Jahr 2012 vor Ort eintrifft: «Der Bus war an der Mauer komplett zerquetscht. Eine Ambulanz und ein paar Polizeiwagen waren schon da. Es tut jetzt noch weh, wenn ich an diesen Moment zurückdenke.» Er verschaffte sich eine Übersicht. Und kontrollierte, ob Flüssigkeiten wie Öl oder Kraftstoff aus dem Bus ausliefen. «Das war aber nicht der Fall», erinnert er sich an seinen Einsatz.
Dann bestieg Favre den Unfall-Car: «Ich schaute, wie wir die Verletzten befreien konnten. Ich habe hinten im Bus angefangen. Wir haben alle Personen aus dem komplett demolierten Bus rausgeholt. Viele waren tot, einige noch am Leben.» Fast alle Überlebenden seien verletzt gewesen.
Der Einsatz war noch am Laufen, als Favre kurz an die frische Luft musste. «Raus aus dem Tunnel. Durchatmen. Auf andere Gedanken kommen.» Dann ging er wieder rein. «Es war total still. Ungefähr 60 bis 70 Rettungskräfte arbeiteten. Aber man hörte nur das Motorengeräusch der hydraulischen Rettungsgeräte, die die Menschen aus dem Bus befreiten. Sonst nichts. Dies ergab eine spezielle Atmosphäre. Wir konnten in Ruhe arbeiten.»
Und diese Arbeit dauerte lange: «Bis 7 Uhr morgens bin ich im Tunnel geblieben. Um diese Zeit wurde auch das Wrack rausgeholt.» Dann ging Favre nach Hause: «Ich habe meine beiden Kinder in den Arm genommen. Mir war bewusst, dass ich dies noch konnte, andere Eltern jedoch nicht mehr. Denn ihre Kinder waren tot.»
Heute ist Favre Busfahrer
Mit einigen der Eltern ist er nach dem Unfall in Kontakt geblieben. «Einen Vater habe ich zu einem Rundflug mit einer Kleinmaschine im Val d'Anniviers eingeladen.»
Doch über die Jahre hätten die Kontakte abgenommen. «Man verliert sich ein bisschen aus den Augen.» Favre bleibt aber stark mit der Gegend verbunden, nicht mehr als Feuerwehrmann, dafür als Busmechaniker und Busfahrer. Es ist eine Rückkehr zu seinen Wurzeln: Schon zu Beginn seines Berufslebens war Favre Mechaniker und lenkte Busse und LKW. «Nun fahre ich auf meiner Route regelmässig die Strasse im Val d'Anniviers ab, sprich den Weg der Kinder im Bus am Abend des Unfalldramas.»
Dass er den Unfallort gleich nach dem Bus-Drama gesehen hat, bei der Rettung involviert war und sich die schrecklichen Bilder bei ihm eingebrannt haben, habe ihn nicht davon abgehalten, selbst wieder Busfahrer zu werden. «Ich übe meinen Beruf gerne aus», sagt er. «Und ich lenke den Bus gerne auf den Strassen des Val d'Anniviers.»
Hin und wieder fährt er mit dem Bus sogar durch den Tunnel bei Siders. «Und auch oft privat mit dem Auto.» Fast immer, wenn er an der Unfallstelle vorbeifahre, erinnere er sich an das Drama. «Ich werde die Bilder des Einsatzes nie vergessen. Aber ich habe gelernt, mit ihnen zu leben.»