Darum gehts
- Angehörigenpflege ist ein lukratives Geschäftsmodell
- 600'000 Menschen in der Schweiz pflegen Angehörige, ein potenzieller Milliardenmarkt
- In der Politik gerät das Geschäftsmodell unter Druck
- Deshalb lobbyieren Spitex-Firmen, allen voran Pflegewegweiser: Mit PR-Firma, Anwalt und Versuchen, Universitäten einzuspannen
Eine Tochter, die ihrer demenzkranken Mutter das Haar wäscht. Ein Sohn, der seinem gebrechlichen Vater auf die Toilette hilft. Eine Mutter, die ihrem behinderten Kind Essen eingibt: Hunderttausende in der Schweiz pflegen Mitglieder ihrer Familien – Tag für Tag, rund um die Uhr, unermüdlich und unbezahlt. Erst seit einiger Zeit können sie dafür entlöhnt werden. Es ist ein Zeichen der Wertschätzung, eine Anerkennung der Pflegearbeit, die Angehörige leisten. Doch die Sache hat einen Haken.
Geld fliesst nur, wenn sich die pflegenden Angehörigen bei Spitex-Firmen anstellen lassen – und einige dieser Unternehmen verdienen dabei kräftig mit. Allen voran der grösste private Anbieter auf diesem Gebiet, bekannt unter dem Namen Pflegewegweiser. Für jede Stunde Pflegearbeit, die ein Angehöriger leistet, kassiert das Unternehmen Beiträge von Krankenkassen und der öffentlichen Hand. So entstand ein lukratives Geschäftsmodell, das allerdings zunehmend unter politischen Druck gerät. Denn die Zeche zahlt die Allgemeinheit.
Recherchen von Blick zeigen: Pflegewegweiser kämpft mit allen Mitteln darum, das profitable System zu erhalten. Es wird eifrig lobbyiert – mithilfe einer der mächtigsten PR-Firmen der Schweiz, eines einflussreichen Anwalts und mit Parteigutachten.
Das Geschäft mit der Pflege
Es begann 2019 – mit einem Urteil des Bundesgerichts. Damals entschieden die obersten Richter, dass Töchter, Väter oder Lebenspartner Geld aus der Grundversicherung erhalten können, wenn sie Angehörige pflegen. Krankenkassen seien verpflichtet, gewisse Leistungen zu entschädigen. Allerdings nur, wenn die Angehörigen bei einer Spitex-Firma unter Vertrag sind. Diese Firmen wiederum haben die Angehörigen fachlich zu begleiten, Pflegekurse anzubieten und administrative Aufgaben zu übernehmen. Dafür erhalten sie einen wesentlichen Teil der Gelder.
Für jede geleistete Pflegestunde erstattet die Krankenkasse 52.60 Franken. Gemeinde und Kantone legen nochmals 20 bis 30 Franken obendrauf. Im Schnitt kommen so – für jede Stunde – 80 Franken zusammen. Aber nur ein Teil davon landet bei den Angehörigen. Maximal sind es 38 Franken. Der Rest, mehr als die Hälfte, geht an die Spitex-Firmen.
Mit dem Urteil des Bundesgerichts entstand ein neuer Markt. Zahlreiche Spitex-Unternehmen kamen auf, die sich auf die Angehörigenpflege spezialisierten. Die Umsätze wachsen exponentiell. Von 2020 bis 2023 verfünffachten sich die Grundpflegeleistungen dieser Firmen. Dabei fällt auf, dass sie einen massiv höheren Aufwand geltend machen als herkömmliche Spitex-Organisationen. In Zürich etwa verrechnen sie pro betreuter Person fünfmal so viele Stunden für die Grundpflege, in Winterthur zehnmal so viele. So hat es eine Erhebung der Gesundheitskonferenz im Kanton Zürich ergeben.
Das Geschäft floriert – und es wächst. Laut Bundesamt für Gesundheit pflegen derzeit 600’000 Menschen in der Schweiz Angehörige – ein potenzieller Milliardenmarkt, finanziert aus Prämien und Steuergeldern. Kein Wunder regt sich allmählich Widerstand.
Gegenwehr auf allen Ebenen
Gemeinden und Kantone befürchten eine Kostenlawine. In Möriken-Wildegg AG etwa fielen letztes Jahr knapp 100’000 Franken für die Angehörigenpflege an – bei einer einstelligen Zahl von Fällen. Im Aargau wollen Bürgerliche deshalb die Beiträge der öffentlichen Hand senken. Andere Kantone gedenken, nachzuziehen.
Gegenwehr regt sich auch in Bundesbern. Mehrere Vorstösse fordern eine stärkere Regulierung der Angehörigenpflege. Krankenkassen und reguläre Spitex-Organisationen lobbyieren für eine Kürzung der Versicherungsbeiträge. Der Bundesrat plant, in der zweiten Jahreshälfte einen Bericht zum Thema vorzulegen. Auf dessen Grundlage sollen dann Gesetze und Verordnungen erlassen werden. Kurz: Dem lukrativen Geschäftsmodell der Angehörigenpflege drohen beträchtliche Einschränkungen.
Dagegen wehren sich die betroffenen Spitex-Organisationen vehement, allen voran die Firma Pflegewegweiser. Sie lobbyiert derzeit an allen Fronten: in den Medien, der Politik, der Justiz und der Wissenschaft. Zentrale Figur ist dabei Andreas Hellmann, ein deutscher Neurowissenschaftler und Direktor von Pflegewegweiser. Im November 2024 hat er sich ans Center for Health Economics der Universität Basel gewandt. Die Universität bestätigt dies auf Anfrage. Hellmann wollte eine Studie finanzieren. Was dann genau passierte, dazu gibt es zwei unterschiedliche Erzählungen.
Eine Gefälligkeitsstudie?
Die Universität Basel schreibt, man sei zum Schluss gelangt, dass «zu wenig Daten» vorliegen, um «relevante Aussagen» zum Thema Angehörigenpflege machen zu können. Deshalb sei die Studie nicht durchgeführt worden. Hellmann stellt den Ablauf anders dar. Nach einer «Sondierungsphase» habe Pflegewegweiser entschieden, «das Auftragsprojekt» mit der Universität Basel nicht weiterzuverfolgen. «Wir sahen die Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Arbeit nicht gegeben», so Hellmann.
Eine gut informierte Quelle beschreibt die Geschehnisse wie folgt: Das Unternehmen Pflegewegweiser habe eine Studie finanzieren wollen, die den «volkswirtschaftlichen Nutzen» der Angehörigenpflege beleuchtet – unter dem Arbeitstitel: «Ökonomische Implikationen der Angehörigenpflege in der Schweiz». Die Universität habe jedoch befürchtet, dass die Studie negativ auf sie abfärben könnte. Da Pflegewegweiser klare politische Interessen verfolge, hätten sich die Uni-Verantwortlichen gegen ein «Gefälligkeitsgutachten» ausgesprochen.
Blick wollte von Hellmann wissen, ob er weitere Universitäten kontaktiert habe. Er antwortet eher vage: Pflegewegweiser stehe «im Austausch mit verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen und führt langfristige Studien mit etablierten Forschungseinrichtungen durch». Welche genau das sind, lässt er offen.
Derweil läuft die PR-Maschine. Hellmann tritt in den Medien auf und verfasst Gastkommentare, darunter einen Text in der «NZZ», der den Titel trägt: «Die professionalisierte Angehörigenpflege sollte nicht verteufelt werden». Dabei agiert Hellmann nicht allein. Unterstützt wird er von Farner, einer der grössten Lobbyfirmen der Schweiz.
Pflegewegweiser bestätigt, dass Farner das Unternehmen seit 2024 vertritt. Was die Spitex-Firma dafür bezahlt, will Hellmann nicht konkret beziffern. Die Konditionen seien «branchenüblich», schreibt der Direktor. Klar ist: Farner liefert umfangreiche Hilfestellung – strategische Kommunikation, Öffentlichkeitsarbeit und Interessenvertretung. Lobbyiert wird auch in Bundesbern.
Vier Lobbyisten, ein Politiker
Mehrere Parlamentsmitglieder berichten, wie sie von Farner kontaktiert worden seien – teils nur wenige Tage, nachdem sie kritische Vorstösse eingereicht oder unterstützt hatten. In einem Fall seien bei einem Treffen gleich vier Lobbyisten erschienen – darunter Hellmann persönlich. «Wie ein Wolf im Schafspelz», so beschreibt ein Politiker dessen Auftreten.
Der Kampf um die Prämiengelder tobt auch vor Gericht. Pflegewegweiser hat den einflussreichen Anwalt Hardy Landolt engagiert, der im Jahr 2019 vor Bundesgericht jenen Entscheid zur Angehörigenpflege erwirkt hat, der alles ins Rollen brachte. Wie Blick weiss, betreut Landolt rund 50 Gerichts- und Einspracheverfahren im Auftrag von Pflegewegweiser. Die Spitex-Firma wehrt sich gegen Kürzungen der Krankenkassen. Klagen will sie in vielen Fällen bis zur letzten Instanz, in der Hoffnung, das lukrative System rechtlich zu zementieren. Was der juristische Feldzug kostet? Auf diese Frage von Blick antwortet Pflegewegweiser nicht.
Aggressive Werbung, rasantes Wachstum
Zeitgleich wirbt Pflegewegweiser um neue Angehörige – offensiv, fast schon penetrant. Im TV laufen Werbespots zur besten Sendezeit, im Internet ploppt überall Werbung auf. Allein bei Facebook und Instagram sind derzeit rund 40 Pflegewegweiser-Anzeigen aufgeschaltet, wie ein Blick in die Meta Ad Library belegt. Laut Hellmann bewegt sich sein Marketingbudget «im einstelligen Millionenbereich». Das Unternehmen wächst rasant. Anfang Jahr hatte Pflegewegweiser noch 1500 pflegende Angehörige unter Vertrag. Mittlerweile sind es schweizweit 2700, wie die Firma auf Anfrage preisgibt.
Insider berichten, Pflegewegweiser wolle so viele Angehörige wie möglich unter Vertrag nehmen – bevor die Politik dem lukrativen Geschäftsmodell einen Riegel schiebt. Mit dieser Einschätzung konfrontiert, weicht die Firma aus: «Als Marktführer in der privaten Angehörigenpflege leisten wir Aufklärungsarbeit und beteiligen uns proaktiv am politischen Diskurs.» Ziel sei es, «gemeinsam Rahmenbedingungen» zum Wohl der Angehörigen, des Gesundheitssystems und der Patienten zu schaffen.
Unerwähnt bleibt, wie sehr die Firma Pflegewegweiser dabei profitiert. Ebenso, dass die Allgemeinheit am Ende die Kosten trägt. Für ein Modell, das einst als Zeichen der Wertschätzung für pflegende Angehörige gedacht war. Inzwischen aber ist daraus ein umstrittenes Millionengeschäft geworden.