Versuchen sich Idealisten und Pragmatiker auf eine Formel zu einigen, um den Rahmenvertrag mit der EU anzupreisen, landen sie gewöhnlich bei einem Wort: Binnenmarkt. Jeder zweite Franken im helvetischen Portemonnaie werde in Europa verdient, rechnet Aussenminister Ignazio Cassis (59, FDP) gerne vor. Bezeichnenderweise konnte der Mann, der für ebendiesen Markt zuständig ist, kürzlich vom Bundesrat völlig unbehelligt durchs Wallis spazieren: EU-Kommissar Thierry Breton (66) besuchte vor zehn Tagen die Impfstofffabrik der Lonza in Visp.
Breton leitet in Brüssel die Kommission für Binnenmarkt und Dienstleistungen. Der Streit, inwiefern die Souveränität der Schweiz durch künftige Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) tangiert ist, fällt in Bretons Geschäftsbereich. Kein Mitglied der Landesregierung nahm die Chance wahr, den Kommissar darauf anzusprechen. Stattdessen traf sich der Bundesrat am Mittwoch zur europapolitischen Klausur. Noch verhandelt Staatssekretärin Livia Leu Agosti (60) ja mit Brüssel.
Doch fürchtet man sich in Bern vor dem nahen Moment, wenn keine Möglichkeit mehr bleibt, als Ja oder Nein zum Abkommen zu sagen. Selbst wenn Leu einiges für die Schweiz herausholt, beim Lohnschutz, der Unionsbürgerrichtlinie oder den staatlichen Beihilfen, wird es für die Befürworter schwierig. Zu lange haben Kritiker unterschiedlichster Couleur das Abkommen seziert, zu lange hat die Landesregierung ein klares Bekenntnis vermieden.
Wer übernimmt die Verantwortung?
Stecken die Parteispitzen und Bundesräte in diesen Tagen die Köpfe zusammen, kreist die Diskussion auch um dieses Szenario: Wie sagen wir der EU, dass die Schweiz ein Abkommen, von dem sie jahrelang gegenüber Brüssel behauptete, es unbedingt zu wollen, gar nicht mehr abschliessen kann? Und wer übernimmt die Verantwortung für diesen Entscheid – der Bundesrat, das Parlament, das Volk an der Urne?
Einig sind sich die Strategen darin, dass Die Mitte, SP und FDP Mühe hätten, eine Mehrheit für ein mittelmässiges Verhandlungsergebnis ins Ziel zu bringen.
Den drei Parteien stehen ohnehin brutale interne Auseinandersetzungen ins Haus. So schwang sich Die-Mitte-Präsident Gerhard Pfister (58, ZG) im Herbst zum pointierten Kritiker der EuGH-Lösung auf. Allerdings stand die BDP, die mit der CVP zu Die Mitte fusionierte, stets hinter dem Rahmenvertrag.
Bei der SP wiederum verhinderte 2019 die harte Hand des damaligen Präsidenten Christian Levrat (50, FR), dass sich Gewerkschafter und Europhile öffentlich an die Gurgel gingen. Der Konflikt schwelt aber weiter.
Bundesrat soll klare Haltung zeigen
«Alle konstruktiven Kräfte müssen ein Interesse haben an einem Vertrag, der vor dem Volk eine gute Chance hat. Einen Absturz der Europapolitik wollen wir sicher verhindern», sagt SP-Co-Präsident Cédric Wermuth (35, AG). Die SP habe ihre roten Linien immer klargemacht, der Lohnschutz müsse sicher sein. «Wir möchten ein Abkommen, aber der definitive Entscheid ist offen.» Eine klare Haltung erwartet er vom Bundesrat: «Wenn der Vertrag gut ist, muss er Ja sagen, sonst muss er ihn selber auch ablehnen.» Es könne nicht sein, dass es in dieser zentralen Frage dem Parlament überlassen bleibe, einen Grundsatzentscheid zu fällen, so Wermuth.
Auch in Petra Gössis (45, SZ) FDP ist die Kritik am Rahmenabkommen wieder lauter geworden. «Wenn sich der Gesamtbundesrat nicht mit Überzeugung hinter dieses Abkommen stellt, ist eine Volksabstimmung nicht zu gewinnen», sagt sie. Klar sei, dass mit Ausnahme der SVP jede Bundesratspartei interne Diskussionen führen müsse, sobald das Dossier ins Parlament komme. Dies sei bei vielen Geschäften der Fall, man dürfe diese Querelen nicht überbewerten. Aber die FDP werde nur einen guten Vertragstext mit grosser Mehrheit unterstützen. «Staatssekretärin Leu muss also hart verhandeln», so Gössi. «Die Frage ist, ob das Rahmenabkommen im Bundesrat eine Mehrheit finden wird. Die Wirkung auf den Wirtschaftsstandort und die Beziehungen zur Europäischen Union wäre wahrscheinlich weniger schlimm, wenn der Bundesrat Nein sagt, als wenn das Volk den Vertrag ablehnt.»
Die Botschaft von FDP und SP an ihre Bundesräte ist klar. Alles andere als ein Durchbruch bei den Verhandlungen soll bereits von der Regierung versenkt werden. Die Frage ist, ob die Magistraten dieser Forderung nachkommen.