Privatschule als Ausweg
«Die Volksschule hat unser Kind kaputtgemacht»

Erstmals ergründet eine Studie in der Schweiz, was Eltern motiviert, ihre Kinder aus der Volksschule zu nehmen. Drei Familien erzählen von ihren Erfahrungen.
Publiziert: 01:09 Uhr
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Aktualisiert: vor 47 Minuten
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An der Volksschule verlor sie den Glauben an sich selbst: Amelia (rechts) mit ihrer Mutter Barbara Phillips und ihrer Schwester Rosa.
Foto: zVg

Darum gehts

  • Studie: Fast 80 Familien befragt, Top-5-Gründe für Schulwechsel ermittelt
  • Die Erlebnisse von drei Familien aus der Schweiz, die ihr Kind aus der Volksschule nahmen
  • An der Privatschule gibt es weniger Druck
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Barbara (51) und Robin (52) Phillips aus dem Kanton Obwalden finden im Videocall deutliche Worte: «Die Volksschule hat unser Kind kaputtgemacht.» Die vierfachen Eltern (ihre Kinder sind 27, 19, 14 und 11 Jahre alt) zogen die Notbremse, als die Dorfschule bei ihrer zweitjüngsten Tochter Amelia «massiv» Druck aufbaute – und die damalige Drittklässlerin «zusammenklappte». Sie verlor jegliches Selbstvertrauen, blockierte, verweigerte sich allem Schulischen.

Was war geschehen? Anlässlich des bevorstehenden Wechsels in die vierte Klasse und der damit im Kanton verbundenen Notenpflicht hatte die Schule den Eltern mitgeteilt, man könne fortan die Leistungen ihrer Tochter nicht mehr ignorieren. «Für mich war dieser Satz der Super-GAU», erinnert sich Barbara Phillips. «Denn die Schule sollte die Leistungen meines Kindes zu keinem Zeitpunkt ignorieren, nicht nur, wenn es um Noten geht.»

Bis das Kind selbst glaubte, es könne nichts

Was die Eltern bereits bei den älteren Kindern beobachtet hatten, die die ersten Lebensjahre in Nordamerika verbracht hatten: Aufgrund ihrer Zweisprachigkeit lernten diese manches verzögert. «Weil Amelia nicht gut lesen konnte, konnte sie auch in anderen Fächern nicht mithalten. Und die Schule gab ihr konstant zu verstehen, sie sei nicht gut genug», berichtet der Vater. Bis das Kind es selbst glaubte.

Nur: Wie schon beim ältesten Sohn ergab die schulpsychologische Untersuchung keinerlei Auffälligkeiten. «Unser Kind passte nicht in das gewünschte Format, und die Schule zeigte keine Flexibilität.»

Empirische Daten statt Vermutungen über Schulwechsel-Gründe

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Weil es in der Schweiz keine freie Schulwahl gibt, bleibt Familien, die mit der öffentlichen Schule unzufrieden sind, meist nur der Wechsel an eine Schule in privater Trägerschaft. Was den Wechsel tatsächlich motiviert, konnte bisher nur vermutet werden.

Nun liegen – noch unveröffentlichte – empirische Daten vor: Erstmals in der Schweiz untersucht eine Studie die Motivation von Eltern für den Schulwechsel. Forschende der Pädagogischen Hochschule FHNW befragten per Fragebogen fast 80 Familien, mit einem guten Dutzend führten sie vertiefende Interviews.

Privatschulen in der Schweiz: Zahlen und Fakten

Privatschulen auf Volksschulniveau stellen in der Schweiz eine kleine, aber stabile Nische dar. Laut Bildungsbericht Schweiz 2023 hat sich der Anteil Kinder, die eine Schule mit privater Trägerschaft besuchen, über die vergangenen zehn Jahre nicht gross verändert und liegt bei knapp fünf Prozent.

Die absolute Anzahl Privatschulen hingegen hat sich (über alle Schulstufen hinweg) im selben Zeitraum nahezu verdoppelt, wie Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen.

Ausländische Schülerinnen und Schüler besuchen fast doppelt so häufig (7,5 Prozent) eine Privatschule wie Einheimische – insbesondere dann, wenn deren Eltern einen hohen Bildungsstandard haben. Hier liege auch der Grund, dass die Privatschulquote in Kantonen mit einem hohen Anteil an hoch qualifizierten Ausländerinnen und Ausländern deutlich höher ist (Basel-Stadt, Genf, Zug), heisst es im Bildungsbericht. Expats, deren Familien sich nur vorübergehend in der Schweiz aufhalten, wollen ihre Kinder nach Ausbildungssystemen unterrichten lassen, die Bildungsmobilität ermöglichen (beispielsweise internationale Programme, zweisprachiger Unterricht etc.).

Im internationalen Vergleich gibt es in der Schweiz relativ wenige Privatschulen. Ein Grund dafür liegt mutmasslich darin, dass die öffentlichen Schulen eine qualitativ hochwertige Bildung anbieten. Die Schweizer Volksschule sei im internationalen Vergleich konsistent auf einem «sehr hohen Niveau, insbesondere im europäischen Referenzrahmen», sagt Dagmar Rösler vom LCH.

Privatschulen auf Volksschulniveau stellen in der Schweiz eine kleine, aber stabile Nische dar. Laut Bildungsbericht Schweiz 2023 hat sich der Anteil Kinder, die eine Schule mit privater Trägerschaft besuchen, über die vergangenen zehn Jahre nicht gross verändert und liegt bei knapp fünf Prozent.

Die absolute Anzahl Privatschulen hingegen hat sich (über alle Schulstufen hinweg) im selben Zeitraum nahezu verdoppelt, wie Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen.

Ausländische Schülerinnen und Schüler besuchen fast doppelt so häufig (7,5 Prozent) eine Privatschule wie Einheimische – insbesondere dann, wenn deren Eltern einen hohen Bildungsstandard haben. Hier liege auch der Grund, dass die Privatschulquote in Kantonen mit einem hohen Anteil an hoch qualifizierten Ausländerinnen und Ausländern deutlich höher ist (Basel-Stadt, Genf, Zug), heisst es im Bildungsbericht. Expats, deren Familien sich nur vorübergehend in der Schweiz aufhalten, wollen ihre Kinder nach Ausbildungssystemen unterrichten lassen, die Bildungsmobilität ermöglichen (beispielsweise internationale Programme, zweisprachiger Unterricht etc.).

Im internationalen Vergleich gibt es in der Schweiz relativ wenige Privatschulen. Ein Grund dafür liegt mutmasslich darin, dass die öffentlichen Schulen eine qualitativ hochwertige Bildung anbieten. Die Schweizer Volksschule sei im internationalen Vergleich konsistent auf einem «sehr hohen Niveau, insbesondere im europäischen Referenzrahmen», sagt Dagmar Rösler vom LCH.

«Häufig entscheiden sich Eltern erst dann für einen Wechsel in eine Schule in privater Trägerschaft, wenn es an der öffentlichen Schule Probleme gibt oder wenn die Betreuung in der öffentlichen Schule aus ihrer Sicht nicht ausreichend gewährleistet ist», sagt Studienleiterin Jasmin Näpfli (42). So geht es den befragten Familien nicht darum, dass ihr Kind aus Prinzip eine Privatschule besuchen soll, es handelt sich dabei auch um keine Eliteschulen.

«Nicht wohlfühlen» kann verschiedene Ursachen haben

Meist suchen Eltern nach einer Alternative, weil sich ihr Kind an der öffentlichen Schule nicht wohlfühlt. Sei dies, weil es soziale Probleme hat, nicht individuell gefördert wird oder überfordert ist.

«Die Eltern schätzten an den Schulen in privater Trägerschaft insbesondere die Förderung des intrinsischen Lernens sowie die Förderung der Neugierde am Lernen», sagt die Forscherin der PH FHNW. Ein überzeugendes Konzept, geringe Leistungsorientierung und offene Lernformen gehörten ebenfalls zu den konkreten pädagogischen und strukturellen Merkmalen, die auf die Eltern überzeugend wirkten.

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Druck ist ein Wort, das häufig fällt, wenn man mit Eltern spricht, deren Kind den Wechsel gemacht hat. «Gabriel hat an der Privatschule nicht mehr den Druck, dass er funktionieren muss wie alle anderen auch», sagt Aline van der Vrande (45).

Ihr heute zwölfjähriger Sohn wechselte nach der zweiten Klasse ins Lernhaus Sole in Mollis im Kanton Glarus. Zuvor fiel er in der Klasse auf, weil er nicht auf Knopfdruck liefern konnte wie die anderen. Oder weil es ihm oft zu laut war. Oder weil er sich zurückzog, wenn ihm alles zu viel wurde. Die Folge: Druck vonseiten der Schule, Hänseleien von anderen Kindern.

Der Schulwechsel wirkte wie ein Kippschalter

Ein Vater aus der Ostschweiz, der anonym bleiben will, berichtet, wie sein Erstklässler von einem Mitschüler gemobbt wurde. Sein Sohn, der bereits mit Ängsten zu kämpfen hatte, verweigerte sich bald komplett, war viel krank, wollte nicht mehr zur Schule gehen. Die Mutter, die ihn bis zum Klassenzimmer begleiten wollte, wurde vom Schulareal gewiesen.

Noch während des ersten Schuljahrs nahmen die Eltern ihr Kind heraus. Seit wenigen Monaten besucht es eine kleine Privatschule. «Dort ist der ganze Druck weg. Er muss keine Hausaufgaben machen, kann aus verschiedenen Projekten zur Mitarbeit wählen, auch von älteren Kindern lernen und selbst Grenzen setzen. Es war wie ein Kippschalter: Heute ist er ein fröhlicher Bub», sagt der Vater.

Ähnliches berichtet Ehepaar Phillips. Nicht nur hat ihre Tochter Amelia an der Grundacherschule in Sarnen OW aufgeholt und steht jetzt in allen Fächern dort, wo sie sollte. Auch ihr Wesen hat sich verändert. Barbara Phillips sagt. «Sie ist aufgeblüht und viel selbstbewusster.» Und der Vater sagt: «Sie haben ein Kind aufgenommen, das von der Standardschule kaputt war, und sie haben sie gerettet. Dafür sind wir endlos dankbar.»

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