Es ist 6.15 Uhr in Münsterlingen TG, als Heinz Tanner (57), Personalchef des Kantonsspitals, auf seinem Morgenspaziergang stutzig wird: «Ich wollte mir den Sonnenaufgang über dem Bodensee anschauen. Da sah ich auf dem Spitalvorplatz zwischen Hagebutten-sträuchern etwas Komisches – eine pinkfarbene Sporttasche, daneben eine Wolldecke, in der ein Mensch steckt. Eine Frau. Sie lag völlig hilflos auf der Erde, neben den Besucherparkplätzen.»
Die Frau ist nicht ansprechbar, aber bei Bewusstsein. Tanner: «Ich alarmierte den Notfallarzt. Danach habe ich der Frau auf die Beine geholfen. Sie torkelte zwei Meter, dann war Ende. Sie stürzte, schlug auf dem Asphalt auf.» Dann sind die Helfer da, setzen die Frau, die sich beim Sturz im Gesicht verletzt hat, in einen Rollstuhl und fahren sie in die Notaufnahme.
Was, um alles in der Welt, ist mit dieser Frau passiert? Wer ist sie? Und wer hat sie hier einfach so im Gebüsch abgelegt? Mit einer Decke, mit einer kleinen Reisetasche, aber ohne Ausweis, ohne Geld?
Sie wiegt nur 30 Kilogramm
Die Frau ist schwer entstellt. In ihrer linken Gesichtshälfte wuchert erkennbar ein Tumor. Das linke Augenlid hängt nach unten. Die linke Wange ist geschwollen, der Mund schief. Die Frau hat blonde, schulterlange Haare und ist 1,58 Meter gross. Sie ist kaum älter als 45 Jahre, wiegt nur 30 Kilogramm!
Professor Martin Krause, Ärztlicher Direktor des Kantonsspitals Münsterlingen, zu BLICK: «Die Patientin leidet nach ersten Untersuchungen an einer Krebserkrankung im fortgeschrittenen Stadium. Am Kopf ist ein Tumor deutlich sichtbar.»
Das Krebsleiden hat den Körper der Frau buchstäblich ausgezehrt. Sie kann weder sprechen noch essen. Professor Krause: «Im Vordergrund steht jetzt, dass die lebenserhaltenden Funktionen aufrechterhalten werden. Oberstes Ziel ist es, die Frau zu stabilisieren und schmerzfrei zu machen.» Nach einigen Stunden auf der Intensivstation konnte die Frau bereits auf die Normalstation verlegt werden.
Ungewisse Herkunft
Über die Herkunft seiner Patientin will Professor Krause nicht spekulieren: «Sie reagiert zwar auf Augenkontakt, bringt aber nur ein paar unverständliche Silben hervor. In welcher Sprache, wissen wir nicht.»
Die Klinik hat die Kantonspolizei Thurgau eingeschaltet. Untersuchungsrichter Patrick Müller: «Wir können bisher nur ausschliessen, dass die Frau allein auf den Spitalvorplatz gekommen ist. Ihr Gesundheitszustand schliesst dies aus. Wir gehen davon aus, dass sie erst ein paar Stunden zuvor beim Spital abgelegt wurde.»
Auch ihr verhältnismässig gepflegter Zustand lasse darauf schliessen, dass die Frau zuvor zumindest laienhaft gepflegt wurde. Spitaldirektor Stephan Kunz: «Aber in letzter Zeit sicher nicht in einem schweizerischen Spital.» Denn: «Jede Fachperson hätte sofort festgestellt, dass die Frau medizinische Hilfe dringend benötigt.»
Die Polizei ermittelt jetzt wegen Aussetzung. Aber das Opfer ist nicht, wie sonst, ein Baby, sondern ein Mensch am Ende seines Lebens.
Zum Sterben in die Schweiz gebracht?
Bis gestern Abend sind keine brauchbaren Hinweise auf die Identität der Frau eingegangen, obwohl ihr Foto im Internet und im TV zu sehen war. Ist die Frau eine Ausländerin, die von Angehörigen zum Sterben in die Schweiz gebracht wurde?
Einziger Anhaltspunkt ist die pinkfarbene Sporttasche mit der Aufschrift der Schweizer Firma «Les Naturelles» (Renens VD), die bei der Frau gefunden wurde. Es sind nur getragene Frauenkleider drin – ist die Frau womöglich doch Schweizerin?
Ist es denkbar, dass die Gesellschaft so weit ist, dass sie schwerstkranke oder alte Menschen vor Spitälern aussetzt, um Kosten zu sparen?
Die Frau, so viel scheint klar, wird nicht wieder gesund werden. Sie soll keine Schmerzen mehr haben, nicht wie ein Tier im Gebüsch verenden. Aber wird sie vor ihrem Tod vielleicht doch noch reden können – damit wir erfahren können, wer ihr das angetan hat?