Jessica (†13) stürzte 2011 in Adelboden BE ungesichert zu Tode
Freispruch für den Bergführer!

Jessica M. (†13) stürzte 2011 bei einem Kletterausflug ungesichert in den Tod. Dafür musste sich der Bergführer in Thun BE wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht verantworten. Nun wurde er freigesprochen – und erhält eine Entschädigung von knapp 17'000 Franken.
Publiziert: 07.09.2017 um 14:05 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 06:40 Uhr
Gabriela Battaglia

Es ist ein schöner Oktobertag, als Jessica M.* (†13) aus Wuppenau TG vor sechs Jahren zu einem Kletterausflug aufbricht. Zusammen mit ihrer Freundin Anissa A.* (damals 12) und dem Bergführer Martin M.* (46) geht es in die Cholerenschlucht bei Adelboden BE. Ein Geschenk von Anissas Grossmutter. Mit dem Handy schickt Jessica ihrem Vater noch ein letztes Bild: «Gäll Papi, das isch cool.»

Viereinhalb Stunden später ist sie tot. Jessica stürzt 50 Meter in die Schlucht. Sie war nicht angeseilt (BLICK berichtete).

«Ich sah sie kopfvoran auf dem Bauch runterrutschen»

Die Schuld von Martin M.*? Gestern, Mittwoch, erst sechs Jahre nach dem Drama, stand der 46-Jährige in Thun BE vor Gericht und musste sich dieser Frage stellen. Die Anklage: fahrlässige Tötung. «Ich war rund 100-mal in der Schlucht», sagt er. «Vor allem mit Jugendlichen. Es gab nie Unfälle auf dem Weg zur Abseilstelle.»

Heute, Donnerstag, nun das Urteil: Martin M. wird freigesprochen und erhält eine Entschädigung von 16'700 Franken zugesprochen!

Die Tragödie passierte auf einem schmalen und steilen Waldweg. Es war nass und glitschig. Martin M. ging voraus, Jessica am Schluss. «Ich hörte ein Rascheln, dann sah ich sie kopfvoran auf dem Bauch runterrutschen», sagt Anissa A.

Jessica hat keine Chance. Ihr erster Klettertrip endet im Tod. Mit dem Gutachten über den Unfallhergang wird ein Bergführer beauftragt. «Es gibt viele ähnliche Wege», sagt er. «Wenn man überall anseilen müsste, könnten wir unseren Beruf nicht mehr ausüben.»

«War Ihnen bewusst, dass es so gravierende Folgen haben kann, wenn jemand stolpert?», fragt die Gerichtspräsidentin Martin M. «Nein», sagt er. «Bei einer Gruppe von zehn bis 20 Personen ist zwingend ein Fixseil nötig. Bei zwei Personen braucht es das nicht.»

Opferfamilie widerspricht Staatsanwältin

Die Staatsanwältin sieht das gleich. Sie fordert einen Freispruch: «Ein temporäres Fixseil war nicht nötig. Der Bergführer verletzte keine Sorgfaltspflichten.»

Sie wollte das Verfahren ursprünglich sogar einstellen. Das Obergericht pfiff sie zurück und kritisierte auch das Gutachten.

Die Anwälte der Opferfamilie kontern scharf: «Die beiden Kinder waren völlig unerfahren, hatten auch keine Kletterschuhe an.» 

«Ich habe immer noch diesen Schmerz über den Verlust», sagt Halbschwester Magaly C.* (28). Jessicas Vater, Gian Andrea M.* ist seit der Tragödie in Therapie. «Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meine jüngste Tochter denke. Ich habe immer noch Heulkrämpfe.»

Martin M. entschuldigte sich bis zum Gerichtstermin nicht bei der Familie von Jessica. «Es tut mir sehr leid, was passiert ist» sagt er immerhin nach der Mittagspause zu Jessicas Vater.

Am Donnerstag nun wurde das Urteil verkündet. Das Gericht folgt dem Antrag der Staatsanwaltschaft und spricht Bergführer Martin M. frei.

Nach Ansicht der Richterin habe der Bergführer alles richtig gemacht. «Sie nahmen die psychische und physische Beurteilung der Mädchen korrekt vor», sagt sie. Stolpern sei jederzeit möglich, so die Richterin. «Es war ein tragischer Vorfall, aber der Bergführer ging kein unerlaubtes Risiko ein.»

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