Heinrich Hefti ist fast so etwas wie ein Wunder. Vor ziemlich genau 60 Jahren erblickte der Glarner das Licht der Welt – ganz ähnlich wie einst das Jesuskind: in eiskalter Nacht, in einem Stall auf einem Bündel Stroh.
Kurz zuvor hatte eine verheerende Lawine das Bergheimet der Familie Hefti in Luchsingen GL unter sich begraben. Noch in der Unglücksnacht wurde Heinrich Hefti geboren: im Stall, in dem die Familie Schutz gesucht hatte.
Heute lacht «Heiri» darüber. Dabei pafft er gemütlich einen Stumpen. Mit seinen zwei älteren Geschwistern Trudi (71) und Fridolin (69) sitzt er am Küchentisch seines Hauses, etwa drei Kilometer vom Gebiet «Zetris» oberhalb von Luchsingen entfernt, wo die Familie gewohnt und Alpwirtschaft betrieben hatte.
Es schneite unaufhörlich
Trudi und Fridolin erinnern sich noch ganz genau an die Geburt ihres jüngsten Bruders Anfang 1954: Damals schneite es unaufhörlich, in den Alpen versanken ganze Täler in den Schneemassen. In Österreich kamen bei Lawinen Hunderte Menschen ums Leben. Auch im Glarnerland donnerten immer wieder Lawinen zu Tal.
Am 11. Januar 1954 gegen sechs Uhr abends sass die damals 42-jährige Anna Katharina Hefti mit den beiden Kindern Trudi (12) und Fridolin (10) am Ofen. Erst zehn Tage zuvor hatten sie diesen Teil des Heimwesens bezogen. Vater Fritz besorgte im oberen Stall das Vieh, als ein ohrenbetäubender Lärm losbrach. «Ein riesiger Knall», sagt Trudi.
Am Glärnisch hatte sich eine mächtige Lawine gelöst und auf ihrem über zwei Kilometer langen Weg alles mit sich gerissen. Jetzt griff sie sich die Ställe und das Heimet der Familie Hefti.
Während im oberen Stall sämtliche Kühe ums Leben kamen, wurde Vater Hefti 100 Meter talwärts geschleudert, überlebte aber mit Kopfverletzungen.
Auch das neue Bergheimet, wo sich Mutter Hefti mit den Kindern aufhielt, war fast völlig zerstört. Doch auch sie überlebten im untersten Teil des Hauses. In zerrissenen Kleidern und auf Socken brachten sie sich im tiefer liegenden Stall in Sicherheit. Der verletzte Vater fand sie dort später.
Mutter durchtrennte eigenhändig die Nabelschnur
Die Heftis hatten gleich mehrfach Glück im Unglück: Bei der im achten Monat schwangeren Mutter setzten durch den Schock die Wehen ein – wenige Stunden später, am Morgen des 12. Januar, kam Heiri zur Welt.
«Die Mutter hatte eigenhändig die Nabelschnur durchtrennt», sagt Fridolin Hefti. «Im Stall war es etwa sechs bis sieben Grad kalt, als Heiri geboren wurde», so Fridolin. «Wir hatten Angst, dass das Baby sterben würde. Es wog nur drei Pfund.» Da das Gebiet von der Umwelt abgeschnitten war, blieb nur noch Beten.
Mit Hornstössen hatte Nachbar Figi in der Nacht Alarm geschlagen. Als sich Stunden später die ersten Männer der Rettungskolonne Luchsingen zum Unglücksort vorgekämpft hatten, waren sie auf das Schlimmste vorbereitet. Zunächst fanden sie nur tote Kühe. Doch dann stellten sie voller Verblüffung fest, dass sich die Familie Hefti vermehrt hatte. Der neugeborene Knabe habe ein riesiges Geschrei aufgeführt, berichteten die Retter.
«Eine wahre Weihnachtsgeschichte»
Seither sprechen die Einheimischen vom «Wunder auf Zetris». Vor Jahren wurde die Geschichte von der Geburt Heiri Heftis sogar in der Kirche Luchsingen aufgeführt. «Eine wahre Weihnachtsgeschichte», sagt «Stumpen-Heiri», wie man ihn im südlichen Kantonsteil nennt. Sein Vater und seine Mutter sind vor ein paar Jahren verstorben.
Die Mutter wurde 94 Jahre alt. Seinen 60. Geburtstag wird der Mechaniker im Kreis seiner Geschwister mit einem guten Stumpen und einem Zwetschgenschnaps feiern. Es gebe Menschen, die im Flugzeug oder im Gefängnis geboren wurden. «Aber», fragt der Glückspilz: «Wer kann schon von sich sagen, dass er in einer Lawine zur Welt gekommen sei?»