Schöner könnte das kleine Dorf nicht liegen. Eingebettet zwischen Churfirsten und Flumserberg, direkt an der Seez. Aeuli. Breite, ausgebaute Strassen mit Trottoirs, ein Rondell und zwei Dutzend schmucke, bis viergeschossige Häuser.
Mitten im Dorf ein grosser Marktplatz. Verschiedene Stände, Sonnenschirme, Fahnenstangen. Ein Hotel mit roten Fensterläden, im Erdgeschoss ein Bistro mit Aussichtsterrasse. Es ist die Hausnummer 15. Daneben das Ratshaus mit Polizeiposten. Eine Bank. Entlang der Hauptstrasse das Schulhaus, Geschäftshäuser mit Tiefgarage. Bei der Dorfeinfahrt eine Tankstelle, dahinter ein Volg-Laden.
Hier, in der Ferienregion «Heidiland», lässt es sich gut leben. Doch kein Mensch wohnt in Aeuli . Das Dorf zählt null Einwohner. Aeuli ist eine Geisterstadt. Richtig gespenstig wird es in der Nacht. Kein Licht brennt. Kein Lebenszeichen. Totenstille.
Doch am Tag marschiert die Bevölkerung von Aeuli auf. Tagsüber herrscht Verkehr. Menschen flanieren durch die Strassen. Burschen vergnügen sich beim Fussballspiel. Alles nur gespielt.
Die Schweizer Armee spricht gar von einem 360-Grad-Live-Theater. Denn Aeuli ist ein Übungsdorf, das grösste der Schweiz, Kernstück des Ausbildungszentrums des Heeres. Die Häuser: innen nur Bunker. Aeuli , nach einem Flurnamen benannt, ist vier Jahre alt. Erstellt hat es die «Armasuisse».
«In Aeuli werden wahrscheinliche Einsätze unserer Armee geübt», sagt Divisionär Fred Heer, der stellvertretende Kommandant des Heeres. «Früher haben unsere Übungen mit einem versenkten U-Boot in Asien angefangen. Dabei standen die Soldaten hoch über Elm auf der Wichlenalp.»
«Wir müssen die tägliche Realität zur Kenntnis nehmen und das scheinbar Unmögliche denken und trainieren», sagt Oberst im Generalstab Alex Reber. «Die Bedrohung hat sich gewandelt und ist unberechenbar geworden», ist die Armeeführung überzeugt. «Extremismus und Terror könnten ohne Vorwarnung auch die Schweiz treffen.»
So still es in der Nacht ist, so laut ist es in Aeuli am Tag. Hundert Rekruten spielen die Dorfbevölkerung. Sie sind in Zivil. Sie lachen, diskutieren und rauchen. Sie verkaufen und kaufen oder fahren mit dem Auto herum. Dorfalltag in Aeuli.
Da sind aber auch die vierhundert Soldaten, die den Raum, das Dorf sichern. Soldaten, die im Ernstfall den zivilen Behörden unter die Arme greifen.
Und genau das üben sie. «Die Tendenz, die Rechtsordnung zu destabilisieren, hat zugenommen. Davon gehen wir bei der Übung aus», sagt Übungsleiter Reber. «Der militante Gegner verfügt über panzerbrechende Waffen, Minen, Sprengstoff und Handgranaten. Seit Wochen unterstützt die Schweizer Armee deshalb die zivilen Behörden. Eine militärische Patrouille wird in einem Hinterhalt angegriffen. Die Regierung hat entschieden, Aeuli anzugreifen und das Dorf zu stabilisieren.»
Krieg in Aeuli! Schwerbewaffnete Soldaten stürmen ein Haus. Blendschock-Granaten lähmen die Bewohner, ohne sie zu verletzen. Scharfschützen bringen sich in Stellung. Ein Schäferhund stellt einen Flüchten den, reisst ihn zu Boden. Die Militärpolizei verhaftet ihn.
Über Aeuli kreist eine Drohne, ein unbemanntes Kleinflugzeug. Eine Kamera filmt alles. Unten im Dorf: Die Bevölkerung ist aufgebracht. Sie demonstriert. Sie greift die Soldaten an und schreit: «Raus hier, raus hier.»
Die Situation eskaliert. Wurfkörper und Fackeln fliegen, Fässer und Autopneus brennen. Der Mob greift an, attackiert die Soldaten mit Schlagstöcken. Autos werden demoliert. Die Militärpolizei verteidigt sich mit Schutzschildern, sperrt die Strasse ab. Ein Panzer fährt auf. Dann knallt es: eine, zwei Ladungen Gummischrot.
Rädelsführer werden herausgepickt. Demonstranten mit Reizgas ruhiggestellt. Es gibt Verletzte! Die Verwundeten werden über den Asphalt aus der Gefahrenzone geschleift, verarztet. Ein Krankenwagen, ein umgebauter Piranha, rast heran. Dann rattern Rotorenblätter. Ein Super-Puma im Landeanflug. Die Verletzten werden ausgeflogen.
Rauchschwaden verdunkeln den Himmel über Aeuli , Maschinengewehrsalven, Panzerhaubitzen-Feuer, explodierende Handgranaten und überall Stacheldraht-Verhau.
Krieg in Aeuli – 360-Grad-Live-Theater!