Aus heiterem Spielen im Hochwasser wird beinahe tödlicher Ernst. Im August 2020 ist der kleine Marvin R.* (damals 4) zusammen mit einem Gspänli (5) und den beiden Müttern (39 und 38) in Gummistiefeln auf der knietief gefluteten Reitwiese in Wil SG unterwegs. Sie wähnen sich in seichten Gewässern.
Doch dann kommt es zu einem schier unfassbaren Drama: Marvin R. wird in einen kurz zuvor geöffneten Schacht gesogen, sackt ab und bleibt im darunter liegenden Abflussrohr hängen. Erst 20 Minuten später können die alarmierten Rettungskräfte den eingeklemmten Buben aus den Wassermassen befreien und ihn schwer verletzt mit der Rega ins Spital fliegen (Blick berichtete).
Der Abfluss war verstopft, da schritt Erich F. zur Tat
«Es ist ein Wunder, dass Marvin den Vorfall überhaupt überlebt hat», sagt der Anwalt der betroffenen Familie vor dem Kreisgericht Wil. Dort muss sich heute Erich F.* (57), der Ehrenpräsident des Wiler Reitclubs, wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung verantworten.
Rund zwei Stunden vor dem Vorfall hatte der passionierte Reiter den Schachtdeckel entfernt, damit das Wasser ungehindert abfliessen konnte. «Ich habe den Schacht zuvor mit der Hand ertastet. Alles war voller Holz, Dreck und Laub. Der Abfluss war komplett verstopft», erklärt F. sein Vorgehen. Er habe mit dem Freimachen des Abflusses eine Überflutung der nahen Reithalle verhindern wollen.
Beschuldigter nimmt Marvins Mutter in die Pflicht
Dass Kinder auf der gefluteten Wiese, über die ein beliebter Kiesweg führt, spielen könnten, sei für ihn unvorstellbar gewesen. «Ich frage mich, was sie da gemacht haben und stelle mir als Vater von drei Kindern auch die Frage zur Aufsichtspflicht. Ein Hochwasser ist kein Kinderspielplatz, das war schliesslich eine alles andere als normale Situation!», so Erich F.
Tragisch: Der kleine Marvin übersteht den Fall in den offenen Abflussschacht nur mit schweren Hirnschädigungen, die Konsequenzen daraus dürften ihn sein Leben lang begleiten. 19 Tage lag der Bub auf der Intensivstation, befand sich danach fast ein Jahr in der Kinder-Reha.
Bub bleibt wohl für immer behindert
Er leidet unter einer schweren Bewegungs- und Schluckstörung, muss rund um die Uhr betreut werden und ist auf eine Magensonde angewiesen. Kommunizieren kann er nur unter Zuhilfenahme eines Computers, dereinst soll er eine heilpädagogische Schule besuchen.
Vor Gericht geht es in erster Linie um Haftungs- und Schuldfragen. Erich F. gibt offen und ehrlich zu, den Schacht am fraglichen Tag entfernt zu haben. «Dass da Kinder spielen könnten, so weit habe ich beim besten Willen nicht studiert. Ich habe da unten nicht mit einer Völkerwanderung gerechnet», sagt der Beschuldigte.
Er stellt sich aber auf den Standpunkt, dass niemand das tragische Unglück habe voraussehen können. Der Schacht sei erst rund zwei Jahre zuvor in die Reitwiese eingebaut worden. Zuvor habe sich an der gleichen Stelle seit den Sechzigerjahren ein offenes, von Gras überwachsenes Loch befunden. Zu Zwischenfällen sei es in all den Jahrzehnten aber nie gekommen.
Es geht um rechtliche Verantwortung und viel Geld
Dem hält der Anwalt der Familie von Marvin R. entgegen: «Der Beschuldigte schuf mit seinem Vorgehen eine latente Gefahr.» Mit dem Verweis auf die Vergangenheit, in der glücklicherweise nichts vorgefallen war, könne er sich nun nicht seiner Verantwortung entziehen. Ob Erich F. den Schacht, wie er selbst beteuert, mit einer Reitstange für Aussenstehende kenntlich gemacht hat, ist umstritten.
Einzelrichter Stefan Schärli reduziert schliesslich in seinem Urteil die von der nicht vor Gericht anwesenden St. Galler Staatsanwaltschaft geforderte Geldstrafe auf Bewährung von 45'000 auf 35'000 Franken. Eine ebenfalls beantragte Busse in Höhe von 3000 Franken wurde F. erlassen.
Richter reduziert Strafmass
«Es handelt sich um den grössten Horror, der Eltern passieren kann», so Richter Schärli zum Unglück. «Die notwendigen Sicherungspflichten wurden nicht vorgenommen. Es handelt sich um eine unbewusste Fahrlässigkeit.» Denn dass es in dem Bereich eine starke Strömung geben könne, sei Erich F. trotz seinen guten Absichten durchaus bewusst gewesen.
Erich F. hatte für sich zuvor einen Freispruch verlangt. «Ich kann mir das bis heute nicht vorstellen, dass so etwas überhaupt möglich ist. Ich würde alles dafür geben, dass der Bub wieder gesund wird», sagte er in seinem Schlusswort.
Der Schuldspruch ist noch nicht rechtskräftig und kann ans St. Galler Kantonsgericht weitergezogen werden. Erich F. reagierte mit wiederholtem Kopfschütteln darauf. Entschädigungsansprüche für Marvin R. und die Haftung über Langzeitfolgen müssten in einem zivilrechtlichen Verfahren geklärt werden.
*Name geändert