Die Anklage der Aargauer Staatsanwaltschaft ist heftig: Sie lautet auf Mord. Der Beschuldigte Jean T.* (32) hat am 26. Januar 2021 am Limmatufer bei Würenlos AG den Rentner Anton P.* (†81) getötet. Deshalb musste er sich am Dienstag vor dem Bezirksgericht in Baden AG verantworten.
Es ist kurz vor 8.30 Uhr, als Jean T. in Hand- und Fussfesseln ins Gericht geführt wird - bewacht von Polizisten. Die Anklageschrift verrät, was sich damals Schreckliches abgespielt hatte. So wollte sich der Beschuldigte an jenem Morgen zuerst vom Üetliberg-Aussichtsturm stürzen - dieser war jedoch abgeschlossen.
Er traf per Zufall auf das spätere Opfer
Als er an der Haltestelle Üetliberg ein älteres Ehepaar wahrnahm, ereilte ihn der Gedanke, wie einfach es wäre, es mit dem Gehstock des Mannes zu erschlagen. Auch von diesem Gedanken kam er ab, da er keine Frauen töten wollte. Er wollte einen älteren Mann töten – an einem Ort, wo er nicht gestört werden konnte.
Schliesslich fuhr Jean T. mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis nach Geroldswil ZH, von wo er dann zu Fuss zur Limmat bis nach Würenlos gelangte. Dort traf er um zirka 13.50 Uhr auf das spätere Opfer. Dieses fragte den Beschuldigten, wie man zum Fressbalken gelange. Jean T. erklärte es ihm - und sie liefen ein paar Schritte.
Jean T. wollte sichergehen, dass Anton P. tot ist
Da liess Jean T. sein zuvor gekauftes Sandwich und Getränk fallen, drehte sich um, sprang das Opfer unvermittelt auf dessen Rücken an und begann, es mit einem Unterarmwürgegriff zu strangulieren. Dabei fielen beide zu Boden. Dort drückte Jean T. mit voller Kraft zu, bis das Gesicht vom Opfer blau wurde und sich dieses nicht mehr bewegte.
Danach zog Jean T. den leblosen Körper an den Füssen die Böschung zum Ufer der Limmat hinunter. Dort drückte er Anton P. ein paar Sekunden mit den Füssen auf den Rücken, um sicherzugehen, dass dessen Kopf unter der Wasserlinie bleibt, falls er noch atmen würde.
Jean T. soll schon Vögel und Familienhund getötet haben
Später soll Jean T. die Kantonale Notrufzentrale angerufen und gesagt haben: «Ich habe soeben eine ältere Person am Fussweg an der Limmat erwürgt.» Als die ersten Einsatzkräfte vor Ort kamen, machte der mutmassliche Täter durch Rufe auf sich aufmerksam – und liess sich widerstandslos festnehmen. Er führte die Polizei auch zur Leiche.
Vor Gericht redet zuerst ein Gutachter. Er spricht bei Jean T. von einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, einer emotionalen Instabilität und sadistischen Zügen. Er soll auch schon mal Vögel und den Familienhund getötet haben. Vor der Tat habe der Beschuldigte schon länger Suizidgedanken gehabt - unter anderem wegen seiner Depression und seiner Arbeitslosigkeit. Er habe an jenem Morgen den Entschluss gefasst, seinem Leiden ein Ende zu setzen.
Laut Gutachter besteht Rückfallgefahr
Laut der Gerichtspräsidentin hatte Jean T. ausgesagt, dass er bei der Tat «den Kopf ausgeschaltet, nichts für das Opfer empfunden und voller Adrenalin und Wut» gehandelt habe. Aber gleich nach der Tat habe er laut eigenen Aussagen an die Angehörigen des Opfers gedacht und sei in eine Depression gefallen. Der Gutachter erklärt: «Beim Umsetzen der Tat hatte er ein Kontrollgefühl. Doch diese Emotionalität verschwand. Und so hatte er wieder viel mehr das Gespür für den eigenen Körper und realisierte, was passiert war.» Dennoch bestehe eine Rückfallgefahr.
Dann wird Jean T. befragt. Der gelernte Speditionskaufmann sagt, er sei im 2009 von Brasilien in die Schweiz gekommen, um Militärdienst zu leisten und einen Job zu finden. Doch Zweiteres klappte nicht. So ging er wieder für ein paar Jahre ins Heimatland und machte dort die Pilotenausbildung. Weil er jedoch keine Stelle als Pilot gefunden habe, sei er im August 2019 wieder in die Schweiz gekommen - um für die Swiss zu fliegen. Doch auch diesen Job kriegt er nicht und landete am Flughafen als Airport-Allrounder. Dann sei er wegen der Coronakrise entlassen worden - wie auch später bei der Post.
«Ich war im Kopf schon tot»
Er habe daraufhin Schulden gemacht und nicht mehr gut schlafen können. «Ich hatte dunkle Gedanken», so Jean T. «Suizid- und Tötungsgedanken.» Er habe überlegt, zu einem Arzt zu gehen. Er habe jedoch gedacht, es würde von alleine wieder besser werden.
Am 26. Januar 2021 habe er keinen anderen Ausweg mehr gesehen. Als das mit dem Suizid nicht geklappt habe, sei ihm der Gedanke gekommen, jemanden umzubringen. «Ich habe mir keine Gedanken gemacht, ich war im Kopf schon tot», so Jean T. Er habe einen älteren Mann ausgesucht, weil der schon sein Leben gelebt habe.
Dem Beschuldigten «tut es leid»
Als er Anton P., den er nicht gekannt habe, bei der Limmat begegnet sei, habe er gedacht: «Jetzt ist der Moment gekommen, um zu handeln. Damit ich diesen Druck loswerde», sagt Jean T. Die Tat sei lange gegangen - dabei habe er gewollt, dass es schnell geht. Er habe während der Tat «nichts gefühlt». Erst danach habe er gewusst, dass es Unrecht war.
Er habe die Leiche verstecken wollen, sagt Jean T. weiter. Er habe am Fluss mit den Füssen auf den Rücken von Anton P. gedrückt, «um sicherzustellen, dass es zu Ende war». Es sei eine Tat der Verzweiflung gewesen, er schäme sich dafür und es tue ihm leid, dass es so geschehen war. Heute würde er die Tat «nicht wieder tun», sagt Jean T. Seine Freiheit sei weg und damals habe er nicht an diese Konsequenzen gedacht. Irgendwann möchte er zurück nach Brasilien gehen - «für einen Neuanfang».
Witwe des Opfers weint vor Gericht
Die Witwe von Anton P., der ein langjähriger Mitarbeiter bei den SBB war, sitzt nur wenige Meter neben dem Beschuldigten - sie weint bei dessen Ausführungen. Das Opfer hinterlässt auch zwei Töchter. Sowohl Anton P. wie auch Jean T. wohnten im gleichen Dorf im Kanton Zürich - per Zufall, wie es vor Gericht heisst.
Die Staatsanwältin spricht in ihrem Plädoyer von einer «besonders skrupellosen» Tat. Der Beschuldigte habe über mehrere Stunden «wie ein Jagdhund» nach einem geeigneten Opfer gesucht. Jean T. habe «aus purer Todeslust» und zur Empfindung eines Machtgefühls getötet. Sie fordert für Jean T. eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren sowie eine stationäre Massnahme.
Der Vertreter der Privatklägerinnen spricht von einer «egoistischen» und «abscheulichen Tatbegehung». Die Hinterbliebenen würden heute noch jeden Tag leiden. Er fordert für sie fünfstellige Genugtuungssummen.
Verteidiger von Jean T. plädiert auf Totschlag
Der Verteidiger von Jean T. sagt, dass die Tötung kein Mord war. Dies sei normalerweise in einem Beziehungsdelikt der Fall. Dieser Fall sei jedoch speziell, da jemand irgendeine Person getötet habe. Laut Gutachter sei sein Klient während Tat zudem unter einem psychischen Druckzustand gewesen. Er sei vermindert schuldfähig. Es sei von einem Totschlag auszugehen.
Und: Ohne sein Geständnis, ohne die Polizei zu informieren und ohne die Beamten zur Leiche zu führen, hätte die Tat «vermutlich nicht aufgeklärt» werden können, so der Verteidiger von Jean T. weiter. Er forderte eine Strafe von 32 Monaten für seinen Klienten. Die Voraussetzungen für eine stationäre Massnahme hingegen seien gegeben.
Gegen Abend verurteilte das Bezirksgericht Baden Jean T. wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Zudem wird eine stationäre Massnahme angeordnet.
* Namen geändert