Darum gehts
- Selbsternannte Pädophilen-Jäger verüben seit rund einem Jahr gewalttätige Übergriffe in der Schweiz
- Jugendliche locken Verdächtige in Fallen und filmen die brutalen Angriffe
- Ausser der Romandie sind sie überall auf der Jagd
Es sind schauderhafte Szenen. Die Handykamera ist auf eine Gruppe vermummter junger Männer mit schwarzen Pullovern gerichtet. Sie stehen am Waldrand um einen Mann mittleren Alters herum, der mit aufgerissenem Hemd auf dem Boden liegt. Mit Anlauf treten sie auf ihn ein. Dazwischen sieht man Chat-Auszüge eingeblendet, die mutmasslich vom Mann stammen. Darin teilt er Sexfantasien mit einer angeblich Minderjährigen. Das Video geistert auf X herum. Und ist die Trophäe von «Pedo Hunting Switzerland». Die Gruppe macht Jagd auf mutmassliche Pädophile. Und ist in guter Gesellschaft.
Gerade fasste im Kanton Zürich die Polizei sechs Jugendliche, die Ende November einen jungen Mann in Winterthur verprügelt und gefilmt haben sollen. Alles Schweizer zwischen 15 und 17 Jahren. Auch sie: selbsternannte Pädophilen-Jäger.
Immer wieder hört man von solchen Aktionen. Sei es aus der Lokalzeitung oder im Netz. Das Vorgehen gleicht sich: Die jungen Männer nehmen über die sozialen Medien mit einem Mann Kontakt auf, geben sich als Mädchen im Schutzalter aus (unter 16 Jahren), um zu schauen, ob dieser darauf anspringt. Tut er es, locken sie den Mann irgendwohin und schlagen ihn. Zum Teil spitalreif. Eine gefährliche Form von Selbstjustiz. Und sie wird beliebter – auch brutaler.
Vergangenes Jahr fing es an
Das Phänomen ist neu. Vergangenes Jahr schwappte es aus Ländern wie Deutschland oder den USA in die Schweiz, über die sozialen Medien. Dirk Baier, Leiter Institut Delinquenz & Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, spricht auf Anfrage von einer «steigenden Zahl an Taten» bei uns. Verlässliche Zahlen fehlen. Doch eine Umfrage von Blick bei einem Dutzend Kantonen zeigt: Mittlerweile hat sich das Phänomen in der Schweiz verbreitet.
Zürich, Bern, Aargau, Baselland, Thurgau, St. Gallen, Luzern, Zug, Tessin – all diese Polizeikorps zählen einige bis eine Handvoll Fälle. Vor allem seit Sommer 2024. Ruhig bleibt es bislang jedoch in den Kantonen Genf und Waadt. Soweit die Korps überhaupt davon wissen. Mehrere von ihnen sagen, was Bernhard Graser, Sprecher der Kantonspolizei Aargau, so auf den Punkt bringt: Etliche solche Delikte würden nicht angezeigt. Die Opfer würden sich aus Scham nicht bei der Polizei melden. «Wir rechnen mit einer Dunkelziffer.»
Extrem sind allein die Aktionen, die bekannt sind.
Im Oktober 2024 erwischte die Polizei in Lugano eine ganze Gang. 19 Jungs, der älteste 18 Jahre, der Anführer erst 13 Jahre alt. Sie sind jung und gefährlich. Laut einer Recherche von RTS benutzte der Gangchef reale Mädchen und Buben als Köder. Er hielt seine Jungs dazu an, die Männer gegen Geld zu erpressen. Und sie zu quälen. Mit Prügel, mit Urinduschen und Kotbeschmierungen oder damit, dass sie diesen die Kopfhaare abrasierten. Demütigung. Gezielt. Und alles gefilmt.
Ähnlich eine Attacke jüngst im April im Kanton Zug. Eine Gruppe von Jungs verprügelte einen vermeintlichen Pädophilen auf einem Golfplatz. Die mutmasslichen Täter: elf Teenager, alles Schweizer aus mehreren Zentralschweizer Kantonen, der jüngste knapp 14 Jahre alt.
Oder im Kanton Zürich. Der Raum Winterthur ist ein Hotspot. Mutmasslich drei Jungs-Gruppen wüteten dort in den letzten anderthalb Jahren. Manche stammen aus der Schweiz, andere haben Wurzeln in Italien, Pakistan und im Libanon. Ob die Gruppen in Zusammenhang stehen, will die Kantonspolizei Zürich nicht sagen. Fest steht: Insgesamt fünf Mal schwärmten sie aus. Auch da: Prügel, Erniedrigung, Filmen und sogar Raub.
In allen Fällen laufen die Verfahren noch. Die vorgeworfenen Straftaten: schwere und leichte Körperverletzung, Erpressung, Nötigung, Raub, Entführung oder Verschleppung. Und man fragt sich: Wie ist das möglich? Was treibt die Jugendlichen an?
Sie sind falsche Schutzengel
Berichte aus Deutschland und den USA zeigen: Die selbsternannten Pädophilen-Jäger spielen sich als rettende Engel auf, die Kinder vor Pädophilen schützen. Dies auch über die Filmchen ihrer Taten, die sie ins Netz stellen. Dafür gibt es Applaus. Aufmerksamkeit. Laut dem Delinquenzforscher Baier ist das ein Motiv. Das andere, sagt er: «Spass haben.» Oft wiesen diese Personen eine Gewaltaffinität auf, haben Freude daran, sich zu prügeln. In der Gruppe schaukeln sie sich gegenseitig noch hoch.
In der Schweiz ist die Zahl der Fälle bislang überschaubar. Anders in den USA oder Deutschland. Dort kämpfen die Behörden seit Jahren dagegen. Vor kurzem publizierte die «New York Times» eine Recherche, die zeigt, was wir auch in der Schweiz beobachten: Die Pädo-Hunter werden immer brutaler. 170 gewalttätige Übergriffe zählte die Zeitung in den letzten beiden Jahren in den USA. In Holland prügelten Jugendliche unter dem gleichen Vorwand 2021 einen Rentner zu Tode. In Deutschland schlägt bereits der Verfassungsschutz Alarm: Er sieht «Pedo-Hunting» als neue, vermehrt eingesetzte Aktionsform «in sämtlichen rechtsextremistischen Strömungen».
Hinweise darauf gibt es auch in der Schweiz.
Die Polizeikorps warnen
Die Jugendlichen in Lugano ahmten den verstorbenen russischen Neonazi Maxim Marzinkewitsch (1984–2020) nach, den Kopf der Pädo-Jäger-Gruppe «Occupy Pedophilia». Auch die Schläger aus dem eingangs beschriebenen Video sind rechtsextrem. Das Online-Magazin «Republik» zitierte diese Woche aus ihrem Signal-Chat – mit über 30 Mitgliedern, aus zehn Kantonen. Darin tauschen sie Gewalt- und Tötungsfantasien gegen Schwule, Linke aus sowie antisemitische Nachrichten. Ein Zitat des Chat-Mitglieds «Helvetiker»: «Frag nie einen Juden, weshalb ihnen die Kinderporno-Industrie gehört.»
Die Aktionen, die Gewaltbereitschaft – all das macht den kantonalen Polizeikorps Sorgen. Sie warnen vor dieser Selbstjustiz. Weil es Unschuldige treffen kann. Oder die Ermittlungen gefährdet, weil unter anderem Beweise unbrauchbar werden. So oder so, sagt Frank Kleiner, Sprecher der Kantonspolizei Zug: «Das Vorgehen solcher Tätergruppierungen ist nicht nur gefährlich, rechtswidrig, sondern wird auch strafrechtlich verfolgt.»