Darum gehts
- Ehemaliger Churer Richter soll Praktikantin vergewaltigt haben
- Opfer setzte klare Grenzen, Täter deutete Signale systematisch um
- Richter kassierte erstinstanzlich einen Schuldspruch. Das Urteil: eine bedingte Freiheitsstrafe von 23 Monaten
Das Urteil hat landesweit für Aufsehen gesorgt: Der ehemalige Churer Richter Manuele G.* ist Mitte November 2024 der Vergewaltigung seiner 24-jährigen Praktikantin schuldig gesprochen worden. Das Urteil: eine bedingte Freiheitsstrafe von 23 Monaten.
Seine Verteidigerin gab damals gegenüber Blick an: «Wir sind enttäuscht und schockiert über das Urteil!» Es gebe erhebliche Zweifel am Sachverhalt der Anklage. Und: «Wir werden Berufung anmelden, damit wir die Begründung einsehen können. Dann prüfen wir das Urteil eingehend.» Danach überlege sich die Verteidigung einen Weiterzug.
Jetzt liegt Blick die 139 Seiten starke Urteilsbegründung vor. Sie legt schaurige Details offen – und wirft die Frage auf, warum die Strafe so milde ausfiel.
Rückblick: Vor genau einem Jahr muss Manuele G. vor dem Regionalgericht Plessur in Chur antraben. Er wirkt selbstbewusst, streitet die Vorwürfe ab.
G. behauptet, Sex und Küsse seien einvernehmlich gewesen. Das Opfer habe nur unklar kommuniziert. Ein «Missverständnis» – so seine Verteidigungsstrategie.
Unsensible Nachfragen
Der ehemaligen Praktikantin bricht vor Gericht mehrfach die Stimme. Sie hat einen Plüschigel dabei, beschreibt sich als «sehr, sehr, sehr gestresst».
Dennoch schildert sie die Tat detailliert, antwortet selbst auf intime Nachfragen konkret. Etwa, als die Richterin fragt, wie und wie oft Manuele G. sie penetriert habe. Die junge Frau gibt zu, es nicht mehr genau zu wissen, sich aber sicher zu sein, dass es mehrfach passiert sei.
Der offene Umgang mit Erinnerungslücken ist einer der Gründe, weshalb das Gericht die Aussagen des Opfers als glaubwürdig einstuft. In der Urteilsbegründung wird die Vergewaltigung noch einmal ausführlich rekonstruiert.
Zum Schutz der Integrität des Opfers verzichten wir auf eine detaillierte Ausführung. Stattdessen fokussieren wir auf die Abwehrsignale der Praktikantin und die darauf folgende Reaktion des Richters.
«Du weisst, dass ich das nicht will»
Zu der angeklagten Vergewaltigung ist es gemäss Urteil am Abend des 13. Dezembers 2021 gekommen. Manuele G. bestellt die Praktikantin für eine Besprechung in sein Büro. Als sie dieses betritt, zieht er die Vorhänge zu.
Bereits zu diesem Zeitpunkt versucht die junge Frau, Grenzen zu setzen: Sie erklärt, das Zuziehen sei unnötig, denn sie werde nicht lange bleiben.
Er bietet ihr daraufhin einen Tee an. Sie nimmt an. Während das Wasser kocht, lehnt sie an der Tischkante an. Er fasst ihr an die Hüfte. Sie rutscht auf den Tisch, weg von seinen Händen, will Distanz schaffen.
Sie sprechen über die Arbeit. Dann beginnt er, ihren Hals zu küssen. Sie sagt: «Manuele, du weisst doch, dass ich das nicht möchte.» Er fragt nach dem Grund. Sie antwortet: «Weil wir nicht alleine sind.»
Sie wehrte sich entschlossen
Die Antwort der Praktikantin mag auf den ersten Blick verwirren. Statt klarzumachen, dass sie die Berührung nicht will, schiebt sie einen anderen Grund vor. Damit versucht sie, die Situation zu entschärfen, ohne ihren Vorgesetzten offen zu provozieren – gemäss Studien ein bekanntes Schutzverhalten in Machtgefällen. Die Verteidigung jedoch deutet genau diese Vorsicht später zur Zustimmung um.
Aus dem Urteil wird deutlich, wie entschlossen sich die junge Frau auch körperlich wehrte. Sie stösst ihn weg, als er sie auf die Brust küsst. Sie will das Büro verlassen, er versperrt ihr den Weg. Sie dreht sich ab, als er sie küssen will. Er hält ihre Handgelenke fest, presst sie gegen die Wand. Sie sagt: «Nein!»
Manuele G. erklärt vor Gericht, die Gegenwehr sei nur ein Spiel gewesen – oder ein Ausdruck von Nervosität.
Das Urteil zeigt auf, wie G. die Signale seiner Praktikantin systematisch umdeutet. Als sie nach der Vergewaltigung am ganzen Körper zittert, sagt er: «Du zitterst sicher so, weil es dir gefallen hat.»
Und er fragt sie sogar: «Han i jetzt en Scheiss gmacht?» Sie antwortet nicht, will nur weg.
Muss nicht hinter Gitter
Das Gericht anerkennt: Sie sagte Nein, sie wehrte sich. Er hörte nicht auf. Das ist der Kern einer Vergewaltigung. Erschwerend dazu der Machtmissbrauch: Er war ihr Chef.
Dennoch stuft die Richterin das Verschulden als «leicht» ein. Manuele G. muss nicht ins Gefängnis, kommt mit einer bedingten Freiheitsstrafe von 23 Monaten davon.
Diese Kombination wirkt widersprüchlich: Ein Richter, der seine Praktikantin im Büro festhält und gegen ihren Willen penetriert, erfüllt exakt das, wovor das Strafrecht schützen soll.
Wenn das «leichte» Gewalt sein soll – wie schwer muss Vergewaltigung dann in einem Büro aussehen?
Meistens unbedingte Strafen
Vergewaltigungen werden in der Schweiz meistens mit unbedingten Freiheitsstrafen sanktioniert. 2024 etwa in 42 von 72 Fällen. Bedingte Freiheitsstrafen gab es nur 14 Mal.
Bei Manuele G. argumentiert das Gericht, er habe keine Vorstrafen. Eine unbedingte Strafe sei nicht nötig, um ihn von weiteren Verbrechen abzuhalten. Und das, obwohl er die Praktikantin bedrohte, während das Verfahren lief, um sie zum Schweigen zu bringen.
Warum die Strafe so mild ausfällt, bleibt auch nach 139 Seiten Begründung nicht schlüssig. Und es drängt sich die Frage auf: Welche Botschaft sendet das Gericht an alle, die Nein sagen?
* Name geändert