Darum gehts
- Übergriffe auf Bahnpersonal werden brutaler.
- Albert Serrano berichtet über seine Erfahrungen als Kundenbegleiter
- SBB planen neue Sicherheitsmassnahmen
Donnerstagmorgen, direkt am Genfer Bahnhof. Albert Serrano (53) erscheint pünktlich, gut gelaunt und macht einen Vorschlag: «Lass uns gemeinsam einen Kaffee trinken.» Der Franzose stammt aus Lyon. Seit 15 Jahren arbeitet er als Kontrolleur bei den SBB, er ist Vizepräsident der SEV-Sektion der Kundenbegleiter in Genf.
Die Freude an seinem Beruf ist ihm anzumerken – auch wenn er nicht immer einfach ist. Denn seit der Corona-Pandemie sind die Übergriffe auf das Bahnpersonal heftiger geworden. Viele Bahnkunden reagieren deutlich gereizter, der Respekt vor den Kontrolleuren hat spürbar abgenommen. In Serranos Worten: «Wir machen einfach unsere Arbeit. Aber manchmal genügt heute schon ein Nein, und die Situation eskaliert.»
Angriffe werden brutaler
Die SBB teilen Serranos Einschätzung. Die Zahl der Fälle bewege sich im Vergleich zu den Vorjahren auf ähnlichem Niveau, allerdings seien die Angriffe in der Tendenz gröber geworden. «Wo es früher zu Beschimpfungen und Drohungen kam, wird heute rascher Gewalt ausgeübt», erklärt die Bahn auf Anfrage. Pro Tag registriere man bei täglich rund 1,4 Millionen Reisenden durchschnittlich zehn Fälle von verbalen oder physischen Angriffen.
«Ich fühlte mich ganz allein»
Serrano trinkt einen Schluck, setzt die Tasse ab und holt tief Luft. Ein kurzer Moment der Stille. Dann legt er los. Es geschah an einem Freitagabend in Lausanne VD, so gegen 23 Uhr. An jenem Abend war viel los im Bahnhof. «Durch den Personalmangel bedingt fahren wir aber manchmal allein.» Er war gerade dabei, die Schlusskontrolle zu machen: Ob noch Passagiere im Zug sind, ob etwas liegen geblieben ist.
In diesem Moment kam ein Mann vom Bahnsteig auf ihn zu – vermutlich betrunken oder unter Drogeneinfluss – und erkundigte sich über einen Zug nach Boudry NE. Der Fragesteller war mit zwei Freunden unterwegs. Serrano erklärte, er habe gerade keine Zeit – der ihm zugeteilte Zug müsse sofort ins Depot, um das Gleis schnellstmöglich freizumachen, und er selbst müsse kurz darauf den nächsten Zug nach Genf nehmen.
Der Unbekannte folgte ihm, draussen auf dem Perron, während Serrano im Zug war. «Vor einer noch offenen Tür spuckte er mich an und beschimpfte mich. Dann versuchte er, in den Zug einzusteigen und mich zu schlagen.» Serrano gelang es, ihn mit dem Fuss zurückstossen. «Er warf mir eine Bierdose nach. Ich konnte ausweichen und die Tür rasch schliessen.» Alle drei schlugen gegen die Tür. «Die Situation war bedrohlich. Ich war völlig allein und hatte grosse Angst.»
Serrano versuchte, den Notruf über die App auszulösen, allerdings funktionierte das in dem Moment nicht. Der Notruf wäre an den Lokführer übermittelt worden, der befand sich aber nicht mehr im Zug und war auch nicht mehr angemeldet. Also rief er direkt die Transportpolizei an. Nur: An diesem Freitagabend war in Lausanne keine Patrouille verfügbar. Serrano kritisiert: «Es gibt nur etwa 200 Transportpolizisten in der ganzen Schweiz, was unzureichend ist.»
Irgendwann musste Serrano aus dem Zug aussteigen, um mit einem anderen Zug nach Genf weiterzufahren. Er lief bis ans andere Ende des Zuges, in der Hoffnung, dass die Angreifer nicht dort auf ihn warten oder ihm folgen würden. Doch beim Verlassen des Zuges fanden ihn die drei Männer wieder. «Sie folgten mir und rannten mir nach. Ich hatte Angst um mein Leben.» Zu seinem Glück konnte sich Serrano gerade noch in den Zug nach Genf retten. Die Tür schloss sich im allerletzten Moment. «Ich hatte Glück. Aber in diesem Augenblick fühlte ich mich völlig allein auf der Welt. Niemand war da, um mir zu helfen. Und das in einer Situation, in der ich verzweifelt jemanden an meiner Seite gebraucht hätte.»
SBB nehmen Stellung
Die SBB schreiben auf Anfrage, dass für diesen Zug eine Doppelbegleitung geplant gewesen sei, die jedoch am Einsatztag wegen eines kurzfristigen Ausfalls gestrichen werden musste. «Die SBB bedauren es, dass für die ausgefallene Person kein Ersatz aufgeboten werden konnte und der Kollege diesen Zug allein begleiten musste.»
Dass der Kontakt zum Lokführer über den Alarm nicht möglich war, begründen die SBB damit, dass ein Lokführerwechsel stattfand. Daher war kein Lokführer im System eingeloggt, als Serrano den Notruf auslöste. Moderne Züge seien zudem mit einem oder mehreren Notfallknöpfen ausgestattet, die ebenfalls eine direkte Verbindung zur Einsatzleitzentrale der Transportpolizei herstellen würden.
Darüber hinaus teilen die SBB mit: «Im geschilderten Fall hatte die Transportpolizei an diesem Samstagabend tatsächlich keine Ressourcen zur Verfügung, da mehrere andere Einsätze gleichzeitig liefen.» Angesichts der Dringlichkeit sei jedoch die Lausanner Polizei durch die Transportpolizei-Zentrale mobilisiert worden, und eine Patrouille sei wenige Minuten später im Bahnhof eingetroffen. Serranos Fall sei zur Anzeige gebracht worden.
Für Serrano ist klar: Nicht nur die SBB, sondern auch der Auftraggeber, also der Bund und die Kantone, müssen Verantwortung übernehmen, damit genug Personal vorhanden sei, um die Sicherheit zu gewährleisten. «Sicherheit hat einen Preis», sagt er abschliessend.
Ein Faustschlag ins Gesicht
Auch Stefan Häusler ist als Kontrolleur im Einsatz – seit 15 Jahren. Blick trifft ihn am Hauptbahnhof in Zürich und begleitet ihn. Er fällt nicht auf; weisse Turnschuhe, Jeans, schlichtes T-Shirt, darüber eine graue Jacke. Er wirkt gelassen. «Heute bin ich zivil in der Zürcher S-Bahn unterwegs», sagt er mit einem Lächeln.
Begleitet wird er an diesem Tag von vier Kolleginnen und Kollegen. Auch Häusler hat im Dienst bereits vieles erlebt. «Die Angriffe gegen das Zugpersonal sind gröber geworden», bestätigt er. Besonders eine Situation sei eskaliert: «Einmal hat mir einer einen Faustschlag ins Gesicht gegeben.» Und in manchen Fällen habe er sich zurückziehen müssen, um eine Eskalation zu verhindern. Die Angreifer wurden jeweils gefasst und verurteilt.
Grundsätzlich fühlt sich Häusler im Arbeitsalltag aber sicher: «Wir sind im Team unterwegs, es gibt Kameras und Sicherheitspersonal.» Wäre es finanziell machbar, wünsche er sich aber noch mehr Sicherheitspersonal.
An diesem Tag bleibt es für Stefan Häusler ruhig – abgesehen von kleineren Diskussionen und einigen Schwarzfahrern gibt es keine Zwischenfälle.
Abwehrmassnahmen in Planung
Die SBB sehen Handlungsbedarf. Seit dem Sommer 2024 werden Schulungen mit Kundenkontakt für heikle Situationen durchgeführt. Nun soll das Schulungsangebot erweitert werden und auf mehreren Modulen basieren. Zusätzlich seien für Mitarbeitende, die bereits an Schulungen teilgenommen haben, Auffrischungskurse geplant.
Auch im digitalen Bereich tut sich etwas: Die SBB arbeiten derzeit an der Entwicklung eines Informationsportals. Dieses Portal soll den betroffenen Mitarbeitenden den einfachen Zugang zu Fachpersonen, Schulungsangeboten, Richtlinien und Meldeverfahren ermöglichen.
Ein Novum wäre zudem der Einsatz von Bodycams bei den Zugbegleitern: Diesen wollen die SBB auf freiwilliger Basis testen. Da jedoch noch rechtliche und datenschutzrechtliche Fragen offen sind, nennt das Unternehmen zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Details.
Kontrolleur Serrano konnte nach dem Angriff einen Monat lang nicht arbeiten und litt unter anderem an Schlafstörungen und Verdauungsproblemen. Dabei habe er lange darüber nachgedacht, ob er diesen Beruf wirklich weitermachen möchte. Aber letztlich überwogen die positiven Punkte die negativen. «Ich mag meine Arbeit wegen des Kundenkontakts. Das zählt für mich mehr als die stressigen Ausnahmen.»