Am 3. März 2021 verlässt eine Frau in London gegen 21 Uhr das Haus einer Freundin und kommt nie zu Hause an. Eine Woche später wird die Leiche der Vermissten gefunden. Die Frau hiess Sarah Everard (†33).
Der tragische Fall der jungen Britin geht um die Welt. «Text me when you geht home xx» (Schreib mir, wenn du zu Hause bist») – diesen Whatsapp-Beitrag, den die Influencerin Lucy Mountain danach auf Instagram veröffentlicht hat, wurde millionenfach geteilt. Es zeigt auf, wie oft Frauen Angst haben, wenn sie des Nachts alleine nach Hause gehen. Tätlich passieren Angriffe auf Frauen oft, auch in der Schweiz. Doch wenige Betroffene teilen, was ihnen zugestossen ist – aus Scham, Angst vor unangenehmen Fragen und nicht zuletzt, weil sie das Vorgefallene verdrängen wollen.
BLICK hat mit zwei betroffenen Frauen gesprochen. Über die Tat selbst und darüber, was passiert, wenn es zur Anzeige kommt und der Täter hinter Gittern sitzt.
«Plötzlich hat mir von hinten jemand in den Schritt gefasst»
Christina B. (37)* beschliesst im Frühling 2015, nach dem Ausgang, zu Fuss nach Hause zu gehen. Es ist zwischen 1 und 2 Uhr nachts, als sie sich auf der Kornhausbrücke in Zürich befindet. «Plötzlich hat mir von hinten jemand in den Schritt gefasst», erzählt sie. «Ich erschrak gewaltig, wollte mich auch gleich wehren und dem Typen eine Ohrfeige verpassen. Aber ich war wie erstarrt», sagt die Frau.
Eine Anzeige erstattet Christina B. nicht, denn sie hat den Täter nicht erkannt. «Er war ganz in Schwarz gekleidet und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Ich hätte ihn gar nicht beschreiben können.» Als die Frau zu Hause ankommt, versucht sie, den Vorfall zu verdrängen: «Ich habe mir eingeredet, dass es doch nicht so schlimm sei.»
Inhaftierter Täter kontaktiert Opfer per Brief
Anders reagiert hat Fabienne L.** (32). Im Herbst 2014 wird sie auf ihrem Heimweg von einem Unbekannten angegriffen. Ganz genau will sich die Frau nicht zum Hergang der Tat äussern: «Er hat mich von hinten angegriffen und mich verletzt. Es kam zu einem Handgemenge, in dem ich mich mit meinem Schlüsselbund wehren konnte.» Damit habe der Täter wohl nicht gerechnet: «Plötzlich liess er mich los, starrte mich an und rannte weg.»
Nach dem Vorfall alarmiert die Frau sogleich die Polizei, es kommt zu einer Anzeige wegen Körperverletzung. Was das Opfer nicht weiss: Wird der Täter gefasst und angeklagt, erhält er Einsicht in ihre Akte. Das bedeutet: Er erfährt den vollständigen Namen, die Adresse, sowie das Geburtsdatum und sogar den Heimatort des Opfers.
«Der Mann konnte gefasst werden und bekam eine Haftstrafe. Meine Erleichterung hielt jedoch nicht lange an», sagt die junge Frau. Denn was kurze Zeit später passiert, ist für Fabienne L. ein Schock: «Ich erhielt einen Brief aus dem Gefängnis – und zwar vom Täter. Darin schrieb er: ‹Ich hatte eine sehr schwere Zeit, was natürlich keine Entschuldigung ist. Mir ist es wichtig, dass Sie wissen, dass es mir wirklich leidtut.›»
«Ich war in Rage»
Mit dem Brief geht die Frau erneut zur Polizei. «Ich war in Rage. Der Täter hatte Zugang zu meiner Akte bekommen. Er wusste alles von mir, ich aber nichts von ihm!» Dem zuständigen Polizisten habe Fabienne L. sehr laut erklärt, was sie von dieser Aktion halte.
Was das Opfer besonders ärgert: «Mir selber hat man den Namen, das Geburtsdatum und den Wohnort des Täters nur kurz auf einem Dokument gezeigt.» Das war, als die Frau für die bildliche Identifizierung des Täters zur Polizeistelle zitiert wird. «Ich war so nervös, dass ich nicht auf den Gedanken kam, ein Foto davon zu machen.» Das Dokument darf sie nicht behalten.
Fabienne L. fragt, wann sie mit der Inhaftierung des Täters rechnen könne, erhält jedoch keine Antwort: «Wann, wo und wie lange dieser Typ ins Gefängnis käme, wollte man mir auch nicht sagen – aus Schutz gegenüber dem Angeklagten.»
«Damals habe ich die Anzeige bereut»
«Ich verstehe, warum viele Betroffene lieber schweigen, statt zur Polizei zu gehen», sagt die junge Frau. «Es ist im Nachhinein schwierig zu sagen, ob ich die Anzeige bereut habe. Damals jedoch war es definitiv der Fall.»
Fabienne L. schildert den Beamten den Vorfall mehrmals detailgenau. Sie beteuert, dass es zu keinem sexuellen Übergriff gekommen sei. Dennoch wird sie immer wieder mit denselben Fragen konfrontiert. «Ich verstehe, dass die Polizei nur ihre Arbeit tut, trotzdem hat es sich manchmal so angefühlt, als müsste ich mich rechtfertigen, dass ich ‹nur› eine Körperverletzung erlitten hatte und nicht mehr.»
Dabei sei es nicht einfach «nur» eine Körperverletzung. Es sei auch eine seelische Belastung. «Ja, ich habe mich beim Angriff gewehrt und den Täter dadurch vertrieben. Und ja, natürlich habe ich mich gefragt, was das Motiv war.» Die Frau habe psychologische Betreuung gebraucht, um das Trauma zu verarbeiten.
«Wenn ich das Geschehene mit jemandem teile, höre ich immer wieder: ‹Was? Ich dachte solche Dinge passieren in der Schweiz gar nicht!› Aber leider geschehen sie und das sogar in Gegenden, wo keine Kriminalität erwartet wird. Ich glaube, dass die Dunkelziffer solcher Angriffe hoch ist, weil viele Betroffene ihre Erlebnisse verschweigen.» (une)
* Name von der Redaktion geändert
** Name von der Redaktion geändert