Eine Ex-Prostituierte erzählt
«Ich dachte, ich mache das ein Jahr, vielleicht zwei»

Die Sexarbeiterin Luisa (38) war ihre eigene Chefin, verdiente gut, erfüllte sich den Traum vom eigenen Haus. Dann, nach mehr als zehn Jahren, wollte sie aufhören – und schaffte es nicht allein. Die Beratungsstelle Rahab Bern half ihr.
Publiziert: 00:01 Uhr
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Luisa stammt aus Osteuropa und kam vor über einem Jahrzehnt in die Schweiz. So lange arbeitete sie als Prostituierte. (Symbolbild)
Foto: Keystone

Darum gehts

  • Viele Prostituierte, die aussteigen wollen, wissen nicht wie und haben kein Geld dafür
  • Luisa arbeitete über ein Jahrzehnt als Sexarbeiterin und hat heute einen ganz anderen Job
  • 76 Sexarbeitende nahmen wie Luisa schon am Ausstiegsprogramm der Beratungsstelle Rahab Bern teil
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Rebecca WyssRedaktorin SonntagsBlick

Luisa (38) war lange zwei Personen. Als sie aufhörte, kehrte sie einer der beiden den Rücken. Wie eine zu eng gewordene Haut streifte sie sie ab, die Carmen, die sie für den Job erschaffen hatte. Die gegen Bezahlung die sexuellen Wünsche der Männer erfüllte. Carmen hat viel gesehen, viel erlebt. Jetzt gibt es sie nicht mehr. Geblieben ist Luisa. Lange war ihr Taufname ihr Geheimnis. Lange rief sie niemand mehr so. Luisa, Luisa – jetzt hört sie ihn ständig. «Das fühlt sich manchmal noch komisch an», sagt sie und rutscht auf ihrem Stuhl hin und her.

Luisa wirkt aufgeräumt. Lacht sie, und das tut sie viel und gerne, zittern ihre Ohrringe. Erzählt sie jemandem etwas, berührt sie die Person mit der Hand. Luisa scheut Nähe nicht. Und doch wurde sie ihr zu viel. Luisa hatte viele Jahre als Prostituierte gearbeitet, vor allem als Selbständige. Wann Sex, wie, wo und mit wem – «das bestimmte ich», sagt sie mit fester Stimme. Doch dann hatte sie genug. Vergangenes Jahr stieg sie aus. Dabei half ihr Rahab Bern – die Beratungsstelle der Heilsarmee für Menschen in der Prostitution. Dort haben wir sie zum Gespräch getroffen.

Geschätzt 20'000 Menschen arbeiten in der Schweiz in der Prostitution. Die genaue Zahl bleibt im Dunkeln. Das Thema ist tabu. Das Milieu verschwiegen. Fest steht: Wer nicht mehr in der Prostitution arbeiten will, hat es schwer. Weil sie keine Alternative haben, finanzielle Verpflichtungen ihren Kindern oder Eltern gegenüber bestehen oder Abhängigkeiten von Zuhältern, Bordellbetreibern, ausbeuterischen Geliebten – also Loverboys. Doch vor allem deshalb: Es fehlt an einer ausgebauten Ausstiegshilfe in der Schweiz. Die wenige, die es gibt, stemmen kleine Organisationen fast ganz alleine. Bis vor kurzem.

Seit Anfang Jahr nun finanziert der Kanton Bern das Ausstiegsprogramm von Rahab Bern mit. 2018 startete dieses. 164'000 Franken sind es pro Jahr. Bis 2027 sind die Gelder vorerst zugesichert – so steht es im Leistungsvertrag, den der Kanton mit der Heilsarmee abgeschlossen hat. Kein Kanton anderer geht so weit. Bislang. Derzeit arbeitet die Frauensektion der Mitte-Partei an einer Offensive, die das ändern soll.

Luisa war nicht abhängig. Sie schuldete niemandem Gehorsam oder Geld. Doch, sagt sie: «Alleine hätte ich den Ausstieg nicht geschafft.»

Sie war jung und hatte grosse Träume

Luisas Weg begann in einer anderen Welt, in einem anderen Land. Sie stammt aus Osteuropa, woher genau, will sie nicht sagen. Nur so viel: Sie studierte Public Relations. «Ich kann gut verkaufen», sagt sie und lächelt. Nach dem Studium wollte sie mehr vom Leben. Sie träumte von einer eigenen Wohnung, einem Haus sogar. Mit 26 fing sie als Prostituierte an. War kurz in Deutschland, wechselte dann rasch in die Schweiz. Doch mit Träumen ist es so eine Sache: Hat man einen erfüllt, kommen weitere dazu. Und sie alle kosten. Aufhören fällt immer schwerer. Luisa zieht die Augenbrauen hoch, blickt ernst und sagt: «Ich dachte, ich mache das ein Jahr, vielleicht zwei.» Es wurden zwölf.

Jahrelang ging es gut. Jahrelang hinterfragte sie ihre Arbeit nicht. Das Geschäft lief gut. Sie konnte sich in ihrem Heimatland ein Haus kaufen. Was half, sagt sie: «Ich war meine eigene Chefin.» Sie bot auf einschlägigen Onlineportalen Sex an. Bei der Auswahl der Männer habe sie ein System gehabt. «Ich suchte nach Jackpots.»

Luisa nahm gut situierte Männer mit einem Drogen- oder Alkoholproblem an. Traurige, einsame Männer, die Gesellschaft brauchten. Sie trank mit ihnen, baute eine Beziehung auf. Die meisten wurden Stammgäste, bezahlten je nach Dienstleistung 3000 bis 6000 Franken, teils inklusive Übernachtung. So musste sie nur wenige Tage im Monat arbeiten. «Ich musste mich nicht für Sex mit vielen Männern kaputtmachen», sagt sie.

Und doch zahlte sie einen Preis. Das war der Anfang von ihrem Ende in der Prostitution.

Schwierige Freier und harter Sex

Luisa tippt sich an die Stirn und sagt: «Ich habe alle Modelle von verrückten Männern gesehen.» Einer glaubte, die Polizei verfolge ihn, deckte die Fenster seiner Wohnung mit Tüchern ab, wenn sie bei ihm war. Sie spielte bei den Spinnereien der Männer mit. Ging «in ihren Film», sagt sie. So auch beim Sex. Sadomaso war Standard. Sie verstummt kurz, während sie erzählt, schaut der Journalistin in die Augen, sagt dann: «Kliniksadomaso, schon gehört?» Diese schüttelt den Kopf. «Aufschneiden, zunähen», sagt sie knapp. Nach den Sessions habe sie «komische Laune» gehabt, habe gedacht: «Vaffanculo! Wenn du das so willst, tue ich es, aber mein Ding ist es nicht!»

Das hinterliess Spuren. Luisa mochte es immer weniger, angefasst zu werden. Sie fürchtete sich vor den Freiern, der Nähe. Hinzu ihre Vereinsamung. All die Jahre blieb sie ganz für sich, liess keine Menschenseele an sich heran. Der Liebe verschloss sie sich. Sie habe im Job schon genug Männer gehabt. «Ich wollte sie nicht in meinem Leben haben.»

Eines Tages dann machte es klick. «Ich spürte: Ich muss aufhören.» Doch wie? Wo sollte sie anfangen? Wie würde es weitergehen? Ein Freier erzählte ihr von Rahab Bern. Anderthalb Jahre ist das her. Jetzt sagt sie: «Ich bin sehr froh.» Sie hat einen Job bei einem Detailhändler gefunden, räumt Regale ein, scannt Waren an der Kasse. Dank der Unterstützung, die das Ausstiegsprogramm der Beratungsstelle möglich macht.

«Carina hat mir gezeigt, wie das geht: normal arbeiten.» Luisa legt ihre Hand auf den Arm der Frau, die neben ihr am Tisch sitzt – Carina Germann, Rahab-Sozialarbeiterin. Sie drückt Luisas Hand, schaut sie an und sagt: «Es ist kein einfacher Weg, ich weiss.»

Die Beratungsstelle pflegt Kontakte zu Detailhändlern, Restaurants und Putzinstituten, vermittelt Jobs. Coacht die Frauen im Bewerbungsprozess. Zahlt auch mal eine Rechnung, während der Zeit, in der sie arbeitslos sind. Gibt ihnen Unterschlupf in ihren Notwohnungen. Und ist immer da, bei jeder einzelnen Frage, die sie haben. Das ganze Programm. Denn das braucht es, wenn jemand aus der Prostitution rauswill. Luisa hat es geschafft. Vorerst. Andere nicht.

Der erste Arbeitstag war der schwierigste

76 Sexarbeitende waren bisher Teil des Programms von Rahab Bern, knapp zwei Drittel sind definitiv ausgestiegen, die meisten davon sind heute finanziell unabhängig. Die Sozialarbeiterin Germann sagt: «Die ersten Monate nach dem Ausstieg sind besonders schwierig.» Es brauche viel psychosoziale Begleitung. Und meist gehe es auch darum, Administratives aufzuräumen oder abzuklären, wo eine Person unterkommen kann. Viele stehen bei Alltäglichem an.

Der erste Tag bei der Arbeit sei «katastrophal» gewesen. Luisa hält sich die Hände vors Gesicht und kichert. «Ich hatte keine Ahnung, wie man sich als Angestellte verhält.» Sie sagte Nein, als die Chefin ihr etwas auftrug, was sie nicht machen wollte. Früher normal, jetzt ein Affront. «Das musste ich lernen!» Genauso den Umgang mit Arbeitskolleginnen. Sie ist gut darin, Männer zu lesen, spricht ihre Sprache bestens. Anders bei Frauen. «Sie sagen dir mit einem Lachen im Gesicht, dass etwas gefährlich ist», sagt sie und verdreht die Augen. «Sie mögen nett sein, aber nie direkt.»

Luisa steht erst am Anfang. Doch sie hat wieder Träume. Sie will lernen, wie man mit Geld umgeht. Sie will Fahrstunden nehmen. Zuerst aber will sie etwas ganz anderes: die drei Monate Probezeit in ihrem neuen Job überstehen.

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