Am Dienstag beginnt die Verhandlung DG200213 – besser bekannt als Vincenz-Prozess. Der Saal des Bezirksgerichts Zürich, das über den Fall befindet, ist zu klein für den erwarteten Andrang. Die Verhandlung findet deshalb im Zürcher Volkshaus statt.
Die Vorwürfe der Zürcher Staatsanwaltschaft, die sich gegen Pierin Vincenz und sechs weitere Beschuldigte richten, beziehen sich auf Vorgänge, die teils mehr als 15 Jahre zurückliegen. Tausende SMS, E-Mails, Verträge, Abrechnungen und Transaktionen haben die Untersuchungsbehörden ausgewertet. Dutzende Beschuldigte und Zeugen wurden einvernommen. Am Ende resultierte eine 364 Seiten starke Anklageschrift.
SonntagsBlick verschafft einen Überblick über die wichtigsten Aspekte. Es sei an dieser Stelle betont: Die Anklage gibt lediglich die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft wieder. Die Erklärungen der Beschuldigten kommen darin nicht vor. Für sie alle gilt die Unschuldsvermutung.
Wer sind die Hauptbeschuldigten?
Pierin Vincenz (65), von 1999 bis 2015 CEO der Raiffeisen-Gruppe. Er hat die Genossenschaftsbank zur drittgrössten Bank der Schweiz und zur Nummer eins im Hypothekargeschäft gemacht. Von 1999 bis 2017 war Vincenz zudem Präsident der Kreditkartenfirma Aduno (mittlerweile in Viseca umbenannt). Jahrelang war der Bündner einer der beliebtesten Wirtschaftskapitäne der Schweiz.
Beat Stocker (61), Unternehmer und Inhaber einer Beratungsfirma. Er lernte Vincenz kennen, als er ihm einen Busi- nessplan für die Kreditkartenfirma Aduno schmackhaft machen wollte. Von 1999 bis 2015 war Stocker Aduno-Verwaltungsrat, von 2006 bis 2011 auch CEO. In den Jahren 2011 bis 2015 war Stocker zudem als Berater für Raiffeisen tätig.
Wer sitzt sonst noch auf der Anklagebank?
Stéphane Barbier-Mueller (64), Mitglied einer reichen Genfer Familie, deren Vermögen die «Bilanz» auf rund eine Milliarde Franken schätzt. Diese betreibt ein eigenes Kunstmuseum und besitzt die stadtbekannte Immobiliengruppe Pilet & Renaud. 2002 gründete sie das Unternehmen Genève Credit & Leasing, kurz GCL. Dieses vergab Konsumkredite und wurde von Stéphane Barbier-Mueller präsidiert.
Ferdinand Locher (58), umtriebiger Immobilien-Tycoon. Bekannt wurde er insbesondere als Stadioninvestor beim FC Thun, mit dessen Vereinsführung er sich öffentlich verkrachte. Locher war zudem Hauptaktionär beim Unternehmen Eurokaution, das Mieterkautionsversicherungen vermittelte.
Peter Wüst (68), ehemaliger CEO der Kiosk-Inhaberin Valora, und Andreas Etter (51), einstiger McKinsey- und UBS-Manager. Zusammen gründeten sie 2009 die Firma Investnet. Diese sollte KMU-Firmen auf der Suche nach Risikokapital mit Investoren zusammenbringen.
Christoph Richterich (60), ein bekannter Zürcher Kommunikationsberater. Er arbeitete jahrelang für Vincenz und die Raiffeisen-Gruppe.
Wer klagt an?
Ausgelöst wurde das Strafverfahren im Dezember 2017 durch eine Anzeige von Aduno (heute Viseca) gegen Pierin Vincenz. Als die Justiz Ermittlungen aufnahm, reichte Raiffeisen ebenfalls Strafanzeige gegen ihren ehemaligen Chef ein.
Leitender Ermittler ist Marc Jean-Richard-dit-Bressel (58), bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich der Mann für Wirtschaftsdelikte. Er ist bekannt für seine langen Plädoyers, gilt als «Überzeugungstäter» und akribischer Arbeiter. 2010 sorgte er ausserhalb des Gerichtssaals für Schlagzeilen: Er bewarb sich mit einer Gesangseinlage für den Eurovision Song Contest.
Welche Vergehen werden den Beschuldigten vorgeworfen?
Vincenz und Stocker werden ungetreue Geschäftsbesorgung, gewerbsmässiger Betrug, Veruntreuung,Urkundenfälschung und unlauterer Wettbewerb zur Last gelegt. Konkret werden den beiden «heimliche Beteiligungen» an der Softwarefirma Commtrain, dem Konsumkredit-Unternehmen GCL, der Mieterkautionsversicherung Eurokaution sowie dem KMU-Finanzierer Investnet vorgeworfen.
Vincenz und Stocker haben sich an diesen Unternehmen privat beteiligt. Anschliessend sollen sie darauf hingewirkt haben, dass sich ihre Arbeitgeber Raiffeisen und Aduno ebenfalls bei diesen Firmen einkauften. Mit anderen Worten: Sie sassen an beiden Seiten des Verhandlungstisches – ohne Raiffeisen oder Aduno über ihre Doppelrolle zu informieren.
Laut Anklageschrift realisierten die beiden dadurch «nicht gebührende Vorteile» in der Höhe von 24,4 Millionen Franken. 8,4 Millionen seien an Vincenz gegangen, rund 16 Millionen an Stocker.
Der zweite Themenkomplex betrifft private Auslagen zum Nachteil von Raiffeisen und Aduno. Vincenz und Stocker liessen sich von ihren Arbeitgebern Aufwände vergüten, die nach Ansicht der Staatsanwaltschaft «geschäftsmässig nicht begründet» waren.
Der Löwenanteil fällt dabei auf Vincenz. Er soll das Vermögen von Raiffeisen um 598'000 Franken «ungerechtfertigt vermindert» haben, indem er allerhand Auslagen mit der Firmenkreditkarte bezahlte oder über die Geschäftsspesen laufen liess: Besuche von Cabarets, Stripclubs und Kontaktbars (201'000 Franken), Reisen mit Familie und Freunden zu Vergnügungs- und Erholungszwecken (251'000 Franken), private Anwaltsrechnungen (142'000 Franken). In einem Fall habe Vincenz seine Arbeitgeberin zudem für die Reparatur eines Hotelzimmers bezahlen lassen, das er in einem privaten Beziehungsstreit beschädigt hatte (4000 Franken).
Stocker wiederum soll seine Arbeitgeberin Aduno mit privaten Auslagen um 96 000 Franken erleichtert haben. Einerseits habe er sich die Mietkosten für ein Businessapartment in Zürich vergüten lassen, obwohl diese Kosten bei ihm gar nicht mehr angefallen waren (77'000 Franken). Zudem zückte er seine Firmenkreditkarte ebenfalls bei Besuchen von Cabarets und Stripclubs (17'000 Franken) sowie für private Flüge seiner Ehefrau (2000 Franken). Abgesegnet wurden die Auslagen vom Verwaltungsratspräsidenten der Aduno – von Pierin Vincenz.
Den Mitangeklagten wirft die Staatsanwaltschaft vor, sie hätten Vincenz und Stocker bei ihren «Schattenbeteiligungen» an den Unternehmen Commtrain, GCL, Investnet und Eurokaution geholfen. Bei allen lautet die Anklage auf Gehilfenschaft zu Betrug, bei einigen auch auf unlauteren Wettbewerb, Anstiftung zu qualifizierter ungetreuer Geschäftsbesorgung sowie Urkundenfälschung.
Was sagen die Beschuldigten zu den Vorwürfen?
Vincenz hat sich nur im Juni 2018, nach 106 Tagen in Untersuchungshaft, öffentlich zum Verfahren geäussert. Damals sagte er: «Die Untersuchungs- haft war aus meiner Sicht unnötig und ihre Länge völlig unverhältnismässig. Die gegen mich erhobenen Vorwürfe bestreite ich nach wie vor.»
Stocker hat sich vor wenigen Wochen in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» ausführlich zu Wort gemeldet. Gegen den Vorwurf des Spesenbetrugs wehrte er sich so: «Natürlich war ich auch einmal in Bars oder in Striplokalen, oftmals sind das die einzigen Orte, wo man spätabends noch abendessen oder einen Drink nehmen kann nach einer Sitzung.»
Die persönlichen Gewinne, die er durch die verschiedenen «Schattenbeteiligungen» realisiert hatte, verteidigt Stocker ebenfalls. Er ist der Meinung, dass er nicht verpflichtet gewesen sei, diese Aduno beziehungsweise Raiffeisen herauszugeben. «Ich habe bei allen vier Transaktionen jeweils früh auch die sehr grossen finanziellen Risiken mitgetragen, unternehmerisch und privat. Ich riskierte also stets meine eigene Haut.»
Wer sind die Verteidiger?
Vincenz hat sich die Dienste von Staranwalt Lorenz Erni (72) gesichert. Der Zürcher Strafverteidiger hat in jungen Jahren Drogendealer, Kleinkriminelle und Mörder vertreten. Mittlerweile ist er zum Advo- katen der Reichen und Mächtigen geworden. Zu Ernis ehemaligen Mandanten zählen Regisseur Roman Polanski, Investor Viktor Vekselberg, der Bankier Oskar Holenweger, der ehemalige Swissair-Chef Philippe Bruggisser sowie der frühere Bundesanwalt Michael Lauber. Aktuell vertritt er auch Ex-Fifa-Präsident Sepp Blatter.
Stocker wiederum setzt auf zwei Anwälte der Zürcher Kanzlei Quadra. Diese wurde erst 2019 gegründet.
Was sind die Knackpunkte in dem Verfahren?
Für die Staatsanwaltschaft geht es darum, das Gericht davon zu überzeugen, dass Vincenz und Stocker arglistig und bewusst irreführend gehandelt haben, um sich zu bereichern. Die Anklagemuss beweisen können, dass sich die beiden Hauptbeschuldigten – mithilfe der fünf Mitangeklagten – verschworen haben, um mit heimlichen Beteiligungen privat davon zu profitieren, dass ihre Arbeitgeberinnen die jeweiligen Firmen kauften.
Die Beschuldigten werden das vehement bestreiten. Alle Übernahmen seien jeweils von der gesamten Geschäftsleitung und im Gesamtverwaltungsrat intensiv diskutiert worden, sagte Stocker der «NZZ am Sonntag». «Es gab Marktstudien, Geschäftspläne und Due-Diligence-Prüfungen.»
Welche Strafen drohen?
Für Vincenz und Stocker fordert die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren – unbedingt. Zudem sollen sie ihren «unrechtmässigen persönlichen Gewinn» den angeblich geschädigten Firmen zurückerstatten müssen. Bei Vincenz wären das neun Millionen Franken, bei Stocker rund 16 Millionen. Hinzu kommt die Übernahme der Untersuchungskosten von je 120 000 Franken.
Am Dienstag, 25. Januar, startet im Volkshaus Zürich der Prozess gegen Ex-Raiffeisen-Boss Pierin Vincenz (65) und seinen Geschäftspartner Beat Stocker (61). Neben den beiden Hauptangeklagten sitzen fünf weitere Personen auf der Anklagebank. Verfolgen Sie den grössten Wirtschaftsprozess der Schweiz seit dem Fall Swissair im Liveticker auf Blick.ch und auf Blick TV. Expertinnen und Experten schätzen die aktuellen Geschehnisse im «Mittagsfokus» im Studio ein, zudem schaltet Blick TV immer wieder zu den Blick-Reportern vor Ort. Am Abend gibt es jeweils eine Zusammenfassung in «Der Tag in 5’».
Am Dienstag, 25. Januar, startet im Volkshaus Zürich der Prozess gegen Ex-Raiffeisen-Boss Pierin Vincenz (65) und seinen Geschäftspartner Beat Stocker (61). Neben den beiden Hauptangeklagten sitzen fünf weitere Personen auf der Anklagebank. Verfolgen Sie den grössten Wirtschaftsprozess der Schweiz seit dem Fall Swissair im Liveticker auf Blick.ch und auf Blick TV. Expertinnen und Experten schätzen die aktuellen Geschehnisse im «Mittagsfokus» im Studio ein, zudem schaltet Blick TV immer wieder zu den Blick-Reportern vor Ort. Am Abend gibt es jeweils eine Zusammenfassung in «Der Tag in 5’».
Für den Mitbeschuldigten Ferdinand Locher fordern die Behörden eine Freiheitsstrafe von 2,5 Jahren, davon ein Jahr unbedingt. Bei Stéphane Barbier-Mueller, Andres Etter und Peter Wüst lautet der Strafantrag auf zwei Jahre bedingt. PR-Berater Christoph Richterich wiederum droht eine bedingte Geldstrafe von 180 000 Franken.
Wer entscheidet?
Hauptrichter ist Sebastian Aeppli (63), Mitglied der Grünen und seit den 90er-Jahren am Bezirksgericht tätig. Er musste in seiner Karriere schon in mehreren grossen Wirtschaftsfällen ein Urteil fällen.
2001 verurteilte er einen Direktor des früheren Bankvereins wegen Insiderhandels. Es war in der Schweiz der erste Schuldspruch wegen eines solchen Vergehens. 2008 sprach Aeppli ein Kadermitglied der israelischen Bank Leumi wegen mehrfacher qualifizierter Veruntreuung schuldig. 2010 verurteilte er den Ex-Finanzchef der Swiss Life zu 30 Monaten Gefängnis.
Interessant ist aber vor allem ein Urteil aus dem Jahr 2003: Damals befreite Aeppli einen bekannten Bankier und Investor vom Vorwurf des Insiderhandels. Ebners Verteidiger damals: Lorenz Erni. Und der unterlegene Staatsanwalt: Marc Jean-Richard-dit-Bressel.
Bis wann ist ein Urteil zu erwarten?
Das Bezirksgericht Zürich hat fünf Verhandlungstage angesetzt, der letzte am Mittwoch, 9. Februar. Es rechnet allerdings damit, dass ein zusätzlicher Prozesstag nötig sein wird. Bis wann ein Entscheid gefällt wird, ist noch unklar. Das Urteil kann aber auf jeden Fall ans Obergericht weitergezogen werden.