Darum gehts
- Polizeidichte in der Schweiz sinkt trotz steigender Zahl von Polizisten
- Drogendelikte werden weniger verfolgt aufgrund mangelnder Ressourcen und fehlender Haftplätze
- 2023: ein Polizist auf 466 Einwohner; 2025: ein Polizist auf 477 Einwohner
Zwar wächst die Zahl der Polizistinnen und Polizisten in der Schweiz. Doch das beruhigt nicht alle Experten. Denn die Bevölkerung wächst aufgrund der Zuwanderung deutlich stärker als die Zahl der Polizisten. Das zeigt sich gerade mit Blick auf neue Zahlen zur Polizeidichte: Gab es 2023 in der Schweiz noch einen Polizisten auf 466 Einwohnerinnen und Einwohner, so kommen 2025 elf Einwohnerinnen und Einwohner mehr pro Ordnungshüter. Am besten ist die Situation im Tessin (1 Polizist auf 329 Einwohner), am wenigsten Polizisten pro Einwohner gibt es im Aargau (1 Polizist auf 735 Einwohner).
Emmanuel Fivaz (51) ist Präsident des Verbands Schweizerischer Polizei-Beamter (VSPB). Er warnt: Schon heute können gewisse Einsätze nicht mehr durchgeführt werden. Und gerade für Drogenkriminelle wird das Leben einfacher, wenn die Polizeidichte sinkt.
Blick: Es gibt immer mehr Polizisten in der Schweiz, aber die Dichte nimmt ab. Was bedeutet das im Polizeialltag?
Emmanuel Fivaz: Die Polizei hat keine Wahl, sie muss sich dem anpassen. Konkret heisst dies: Die Polizei kann zwar noch immer alles erledigen, was dringend ist – beispielsweise die Notrufe. Die Bevölkerung ist also nicht gefährdet. Aber bei gewissen Einsätzen muss man Prioritäten setzen, Nachbarschaftskonflikte oder Lärmbelästigungen kann die Polizei vielleicht gerade nicht erledigen. Auf andere Einsätze wird ganz verzichtet.
Zum Beispiel?
Das können Verkehrskontrollen sein oder die Prävention generell. Oder nehmen wir den Betäubungsmittelbereich. Laut der Kriminalstatistik sind die Drogendelikte im letzten Jahr zurückgegangen. Das entspricht aber nicht der Realität. Den Rückgang gibt es nur, weil man diese Delikte nicht mehr so stark verfolgt. Wenn man weniger kontrolliert, gibt es einfach weniger Fälle.
Drogendealer haben es einfacher als auch schon?
An verschiedenen Orten in der Schweiz hat man die Bekämpfung des Drogenhandels zur Seite gestellt. Man hat nicht mehr die Ressourcen. Und auch nicht genügend Haftplätze, zum Beispiel im Kanton Waadt. Da kann die Polizei machen, was sie will: Wenn man die Drogendealer aus dem Verkehr ziehen will, muss man sie inhaftieren können. Das ist ein Problem. Wir haben den Kampf zwar nicht verloren, aber die Prioritäten sind falsch gesetzt. Und …
Bitte.
Man koordiniert zu wenig überregional. Wenn ich in Neuenburg den Drogenhandel bekämpfen will, geht das nicht, ohne gleichzeitig auch in den Nachbarstädten Yverdon-les-Bains VD oder Biel BE Massnahmen zu ergreifen. Weil diese in anderen Kantonen liegen, ist dies aber nicht einfach.
Tatsächlich sind die Polizeikorps sehr föderalistisch organisiert. Sie können als Neuenburger Polizist nicht auf Berner Daten zugreifen.
Das ist ein totaler Anachronismus. Wenn ich bei einem Raubüberfall in Neuenburg ein rotes Auto mit Genfer Nummer sehe und wissen will, ob ein anderes Korps dieses Auto auch gesehen hat, muss ich quasi per Fax eine Anfrage an alle anderen Korps schicken. Als Neuenburger mache ich dies auf Französisch. Alle 26 Polizeikorps, das Fedpol, die Stadtpolizei Zürich und so weiter erhalten dieses Fax. Unter den 40 Empfängern hat es vielleicht 15, die fliessend Französisch sprechen. Aber rund 40 Personen müssen sich zwei Minuten lang damit beschäftigen. Das ist wie im Mittelalter. Im Ausland glaubt mir das niemand.
Warum hat die Politik nicht längst vorwärtsgemacht?
Das ist eine sehr gute Frage. Ich kenne die Antwort nicht. Man war vielleicht lange zu naiv und glaubte, dass es dann schon irgendwann besser wird. Man sieht hier die Grenzen des Föderalismus. Aber genau aus diesem Grund arbeiten wir vom Verband eng mit den Parlamentarierinnen und Parlamentariern zusammen.
Es bräuchte eine bessere Zusammenarbeit?
Ja. Nehmen Sie beispielsweise auch das organisierte Verbrechen. Man spricht zwar mehr und mehr von gewissen Geschäften wie Barbershops oder Nagelstudios, die unter dem Verdacht stehen, Geldwäscherei zu betreiben. Aber heute sagen die Kantone, das organisierte Verbrechen sei Aufgabe der Bundespolizei Fedpol. Und der Bundesanwalt wiederum sagt, dass er die Mittel nicht hat. Da müssen wir uns anders organisieren. Man kann nicht sagen: Das geht mich nichts an. Denn die Täter organisieren sich sehr gut.
Der Trend geht aber aktuell Richtung sparen.
Die Sparpolitik auf Bundesebene beschäftigt mich sehr. Man will aktuell zu viel sparen und gibt zu wenig Geld für die innere Sicherheit aus. Man kann nicht de facto die äussere Sicherheit von der inneren trennen: Es sind zwei Seiten des gleichen Auftrags. Es ist klar, dass man mehr Geld für die Armee will. Aber man darf nicht vergessen: Die innere Sicherheit ist extrem wichtig, gerade mit Blick auf die momentane geopolitische Lage. Müsste sich die Schweiz gegen eine Aggression wehren, egal ob bei Cyberattacken oder Raketen, so wären der Zoll und die Polizei sehr wichtig.
Vielen Kantonen geht es finanziell gut. Sie könnten mehr Polizisten anstellen.
In mehreren Kantonen wäre dies tatsächlich möglich. Einige Kantone haben das auch getan. Aber damit ist das Problem gar noch nicht gelöst. Denn es ist schwierig, Personal zu finden. Und die Babyboomer gehen erst noch in Pension.
Was kann die Polizei dagegen tun?
Die Polizei muss attraktiver werden. Die Leute wollen mehr Flexibilität, etwa bezüglich Teilzeitpensen oder Arbeitszeiten. Klar, die Polizei wird immer 24 Stunden arbeiten, und es wird Nachtarbeit geben. Aber man muss Löhne, Abgeltungen für Pikett- und Wochenendeinsätze oder die Flexibilität anpassen, um mit der Privatwirtschaft mithalten zu können. Auch sollte man in neue Technologien investieren, damit kann man gewisse personelle Engpässe abfedern.
Sie haben viel Einblick: Wie geht es den Polizistinnen und Polizisten in der Schweiz?
Die Motivation ist sehr hoch. Für viele ist es eine Berufung. Einige sind aber ernüchtert: Wenn man täglich die gleichen Täter sieht und diese nicht ins Gefängnis bringen kann, hat man ein Ohnmachtsgefühl. Das schlägt auf die Moral. Hinzu kommt: Es gibt viele ausserordentliche Einsätze, die aber immer mehr zur Gewohnheit werden. Dazu gehören Fussball- oder Eishockeymatchs. Sie brauchen sehr viele Ressourcen, gerade an Wochenenden oder Abenden.
Die Fussballklubs aber wehren sich gegen die Hooligan-Massnahmen der Kantone.
Ich verstehe absolut nicht, weshalb die Klubs Massnahmen verweigern, die für eine bessere Sicherheit der Besucherinnen und Besucher sorgen. Die Leute kommen, um im Stadion eine gute Zeit zu haben. Wenn es Ausschreitungen gibt, bleiben sie zu Hause, und der Klub hat keine Einnahmen.
Mit dem ESC und der Frauenfussball-EM kommen weitere Grossanlässe auf die Polizisten zu.
Im Mai gibt es in der Region Basel wohl keinen Polizisten, der Ferien nehmen darf. Die ganze Schweiz muss aushelfen. Wenn man unter den Schweizer Polizistinnen und Polizisten abgestimmt hätte, ob der ESC in der Schweiz stattfinden soll, hätten viele wohl nicht zugestimmt. Denn es gibt für sie viel mehr zu tun.