IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric Egger
«Das Töten muss aufhören!»

Gaza, Ukraine, Sudan: Mirjana Spoljaric Egger hat mit immer mehr bewaffneten Konflikten zu tun – ist aber gezwungen, Personal zu entlassen. «Ökonomisch kurzsichtig», findet das die Spitzendiplomatin.
Publiziert: 20:13 Uhr
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Aktualisiert: 20:14 Uhr
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Mirjana Spoljaric Egger muss Tausende IKRK-Mitarbeitende entlassen.
Foto: Raphaël Dupain

Darum gehts

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Raphael RauchBundeshausredaktor

Frau Präsidentin, wird die Menschheit dümmer – oder aus welchem Grund nimmt die Zahl von Kriegen und Konflikten weltweit zu?
Mirjana Spoljaric Egger: Die Menschen wissen, was sie tun. Es geht nicht um Dummheit, sondern um mangelnden Willen. Sie können auf militärische Kraft setzen, sie können aber auch auf Politik setzen. Politik ist immer das günstigere, effizientere und zielführendere Mittel. Wir müssen zum Primat der Politik zurückkehren und mutig dafür kämpfen. Das Töten muss aufhören.

Sie haben weniger Geld zur Verfügung. Was hat Ihr Verwaltungsrat diese Woche entschieden?
Wir haben das Budget für 2026 diskutiert – und leider ist ein Stellenabbau unumgänglich. Wir sind nun einmal auf die Mittel der Geberländer angewiesen, und viele fahren ihre Beiträge stark zurück. Wir erwarten, dass in Genf etwa 200 Mitarbeitende direkt betroffen sein werden. Weltweit sind insgesamt rund 2900 budgetierte Stellen betroffen. 

Ist es nicht gefährlich, humanitäre Helfer zu entlassen, wenn die Zahl der Krisen zunimmt?
Sie haben völlig recht – es ist eine schwierige und paradoxe Situation. Während die Zahl bewaffneter Konflikte auf circa 130 weltweit steigt und humanitäre Krisen zunehmen, kürzen Geberländer ihre Budgets. Das ist nicht nur bedenklich, sondern auch ökonomisch kurzsichtig. Was wir ausserdem wirklich brauchen, sind weniger Konflikte und Kriege. Krisen verhindern ist immer billiger, als deren humanitären Folgen zu bewältigen. Doch statt in Konfliktprävention und politische Lösungen zu investieren, wird genau dort gespart, wo Menschen bereits im Chaos leben.

Ist dafür Donald Trump verantwortlich?
Nicht nur die USA, sondern alle wichtigen Geber-Länder haben ihre Budgets für die internationale Zusammenarbeit massiv gekürzt. Davon ist auch das IKRK betroffen. Wir sehen noch kein Licht am Ende des Tunnels. 

Kann man Frustrationstoleranz lernen?
Solange ich gesunde Hände habe und arbeiten kann, werde ich mich dafür einsetzen, dass die Welt besser wird. Ich rufe die Staats- und Regierungschefs jeden Tag dazu auf, sich stärker und kompromissloser für Waffenstillstände und das humanitäre Völkerrecht einzusetzen. 

Sie müssen Empathie zeigen gegenüber dem Leid auf der Welt – dürfen es aber nicht zu nah an sich heranlassen. Wie gehen Sie mit diesem Spagat der Gefühle um?
Nach bestem Wissen und Gewissen. Dazu gehört, meine Familie zu schützen und meine Kinder nicht hineinzuziehen. Sie sind jung und sollen sich auf ihre eigene Zukunft konzentrieren. Aber das ist nicht immer einfach – zum Beispiel, als ich trotz fehlender Waffenruhe nach Gaza reiste.

Wie haben Sie sich von Ihren Kindern verabschiedet?
Meine Familie geht damit sehr reif und verantwortungsbewusst um. Und wir sind nicht allein – alle IKRK-Kolleginnen und -Kollegen befinden sich früher oder später in einer ähnlichen Situation. 

Der Gazastreifen ist nur noch ein grosses Trümmerfeld. Welche Eindrücke haben Sie von dort mitgebracht?
Das, was ich in Gaza erlebt habe, darf die Menschheit nicht erneut zulassen. Doch in Gaza passieren weiterhin Dinge, die nicht passieren dürften. Die Zivilbevölkerung wurde nicht geschützt. Humanitäre Hilfe wurde instrumentalisiert, humanitäres Personal wurde zur Zielscheibe. Das ist mit das Schlimmste, was es gibt. 

Das IKRK spielt beim Austausch von Geiseln, Gefangenen und Leichen eine wichtige Rolle.
Wir haben 160 lebende Geiseln von Gaza nach Israel zurückgebracht, 3472 palästinensische Gefangene haben israelische Gefängnisse verlassen. Wir haben auf israelischer Seite 32 Verstorbene zurückgebracht und 315 auf palästinensischer Seite. Die Rückführung von Toten läuft weiterhin – dies ist sehr aufwendig und kompliziert. Wir tun alles, damit das Abkommen hält. Es gibt keine Alternative zum Waffenstillstand. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass nach wie vor Tausende von Palästinensern in Gaza vermisst werden.

Seit dem 7. Oktober 2023 dürfen Sie keine israelischen Gefängnisse mehr besuchen. Wird sich daran demnächst etwas ändern?
Gemäss der vierten Genfer Konvention muss uns Israel den Zugang zu den Gefangenen gewähren. Wir verlangen in unseren vertraulichen Gesprächen Zugang zu den Haftanstalten. Und Israel muss umfänglich humanitäre Hilfe im Gazastreifen zulassen.

Hat sich seit dem Waffenstillstand die Situation nicht verbessert?
Nach wie vor fehlt es an Hilfsgütern, und Lieferungen verzögern sich aufgrund operativer Herausforderungen erheblich. Wenn Sie in Gaza die Wasserversorgung verbessern wollen, brauchen Sie Material, das unter Dual-Use-Regelungen fällt (auch für militärische Zwecke verwendet werden kann; Red.). Das führt zu Problemen bei der Einfuhr, obwohl technisches Zubehör für die Menschen in Gaza lebensnotwendig ist. 

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Die Schweiz nimmt 20 Kinder aus Gaza auf. Kantone wie Zürich, Bern und Aargau wollen keine Kinder von dort behandeln. Beschämt Sie das?
Ich fordere alle Staaten dazu auf, sich für mehr Hilfe einzusetzen. Das Gesundheitssystem in Gaza funktioniert nicht mehr, Mediziner können keine hoch spezialisierten Operationen durchführen. Das, was Kinder in Gaza erleiden mussten, übersteigt die Mittel, die wir in unserem Feldspital in Gaza zur Verfügung haben, um ein Vielfaches.

Was fordern Sie konkret von der Schweiz?
Mein Appell richtet sich an alle Nationen: Wir müssen deeskalieren! Die Staaten investieren massiv mehr in Verteidigung und in die Bereitschaft, Krieg zu führen. Das bedeutet, dass die Zahl der bewaffneten Konflikte früher oder später zunehmen wird, denn irgendwann werden die Waffen benutzt. Entweder die Staaten investieren jetzt in Deeskalation, um Kriege zu beenden und Kriege zu vermeiden – oder sie nehmen in Kauf, dass alles noch schlimmer und teurer wird. 

Die Welt wollte aus den Massakern in Ruanda und Srebrenica lernen. Wieso bleibt die Staatengemeinschaft im Sudan untätig?
Die Art des Konflikts wird immer komplexer. Wir haben es mit verschiedenen Clan-Strukturen zu tun. Sogar für uns als IKRK ist es sehr kompliziert, humanitäre Zugänge auszuhandeln und umzusetzen. Es gibt Länder, die auf den Konflikt Einfluss nehmen könnten. Je länger sie zuschauen, wie das humanitäre Völkerrecht systematisch missachtet wird, desto mehr Opfer und Flüchtlinge wird es geben. Ich befürchte, dass der Konflikt im Sudan eher weiter eskaliert. 

Der Chef des Uno-Flüchtlingshilfswerks, Filippo Grandi, sagt: Wer keine Flüchtlingskrise mehr haben will wie 2015, muss mehr Geld bereitstellen. Hat er recht?
Wenn Sie ein Aufnahmelager an der Grenze zu Darfur im Tschad besuchen, sehen Sie Hunderttausende Flüchtlinge, die in einem Gebiet sind, wo nicht einmal die einheimische Bevölkerung versorgt werden kann. Die Menschen werden weiterziehen, wenn sie nicht überleben können. Es ist im Interesse aller Staaten, sofort humanitäre Hilfe bereitzustellen.

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