Experte zu Sprachdefizit
«Der familiäre Hintergrund ist viel relevanter»

Schulen stehen vor der Herausforderung, sprachliche Unterschiede auszugleichen. Sprachprofessor Raphael Berthele betont, dass der familiäre Hintergrund wichtiger ist als die (fremde) Muttersprache. Und sagt, wieso Frühförderung problematisch ist.
Publiziert: 00:00 Uhr
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Ein Drittel der Kinder benötigt zusätzliche Sprachförderung vor dem Kindergarten.
Foto: keystone-sda.ch

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Pascal ScheiberReporter Gesellschaft

Eine neue Auswertung aus dem Kanton Basel-Landschaft zeigt, dass ein Drittel aller Kinder vor dem Kindergarten eine Deutsch-Förderung benötigt. Auch im Thurgau oder in Zürich ergeben Untersuchungen ein ähnliches Bild. Ist das problematisch? Raphael Berthele forscht an der Universität Freiburg als Professor für Mehrsprachigkeit.

Blick: Ein Drittel der Kinder benötigt Deutsch-Förderung. Überrascht Sie das?
Raphael Berthele: Nein, aber es wird immer sichtbarer, dass Kinder mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen ins Schulsystem eintreten.

Warum wird das jetzt sichtbar?
Man testet mehr und es gibt immer mehr Berichte. Die Aufmerksamkeit für diese Thematik ist grösser. Studien zeigen: Die Unterschiede, die schon in der ersten Klasse bestehen, gehen über die Jahre nicht weg. 

Sie sagen, die Situation sei an vielen Orten in der Schweiz ähnlich.
Ein genaues Bild über die ganze Schweiz zum vorschulischen Niveau haben wir nicht. Ich höre aber aus ländlichen und urbanen Regionen von einem enormen Unterschied in den Lernvoraussetzungen. Sprachliche Unterschiede sind Teil davon, aber nicht allein verantwortlich für Lernprobleme.

Wenn eine fremde Muttersprache weniger über fehlende Deutsch-Kompetenz aussagt, was denn?
Wir wissen aus der Forschung, dass der familiäre Hintergrund viel relevanter ist. Der sozioökonomische Status einer Familie hat einen grossen Einfluss. Das heisst: Wenn die Eltern eine höhere Ausbildung absolvierten, mehr Geld vorhanden ist oder die Wohnung grösser ist, dann hängt das mit dem Bildungserfolg der Kinder zusammen. Das beobachtet man in der Schweiz und im Ausland. Dieser Faktor ist wichtiger als Sprache oder Dialekte.

Der sozioökonomische Status und eine fremde Muttersprache hängen aber zusammen.
Dass sich diese vermischen, macht die Debatte kompliziert. Ein grosser Teil der fremdsprachigen Bevölkerung gehört eher zu einer tieferen sozialen Schicht. Ich muss aber betonen und das zeigen viele Studien aus der Schweiz: Ob zu Hause Deutsch gesprochen wird oder nicht, ist nicht alleine ausschlaggebend. 

Die oberste Lehrerin Dagmar Rössler sagt: Wenn das Sprachniveau nicht stimmt, sei es im Schulalltag schwierig, auf etwas aufzubauen. Stimmen Sie zu?
Die Schule steht in einem Zielkonflikt. Es wird von der Schule erwartet, dass sie solche Unterschiede ausgleicht – unabhängig von der Voraussetzung. Das ist das Ideal der Chancengleichheit. Man sieht die Schule als den grossen Equalizer, der Unterschiede ebnet.

Und gleichzeitig vorselektioniert.
Was paradox erscheint. Die Schule muss Noten verteilen, Kompetenzen zertifizieren und Unterschiede dokumentieren.

Welchen Rat geben Sie Eltern, wenn sie die Sprachkompetenz fördern möchten?
Es gibt Hinweise aus Studien, die zeigen, dass die Zeit in einer Kita einen positiven Effekt auf die Entwicklung der Sprachkompetenz liefert. Das kann ich bestätigen. Aber: Familien wählen sehr unterschiedliche Wege, Kinder sprachlich zu sozialisieren: Bücher lesen, Geschichten erzählen, schreiben. Das Lernen einer Sprache braucht viel Zeit und eine ernsthafte Auseinandersetzung damit. Aber den Eltern vorzuschreiben, wie sie die Kinder erziehen sollen, ist in einer liberalen Gesellschaft etwas problematisch.

Machen die Behörden im Bereich der Frühförderung zu wenig?
Die Schulen wissen im Moment nicht genau, wie sie dem Anspruch gerecht werden können. Ein Grund: Die Ressourcen fehlen, um all diesen sehr unterschiedlichen Erwartungen und Bedürfnissen gerecht zu werden. Vielleicht auch, weil oft nicht ganz einfach ist, zu wissen, wer die Frühförderung benötigt und wer nicht. Wir müssen akzeptieren, dass die Menschen unterschiedliche Prioritäten haben. Wenn alle Kinder vor dem Schuleintritt bereits die gleichen Dinge kennen und können sollen, so müsste man stark in die Privatsphäre der Familien eingreifen. 

Der Leistungsdruck auf die Kinder hat in den letzten Jahren zugenommen. Ist das mitunter ein Grund dafür?
Das glaube ich auch. Ich kann es nicht auf Basis von Studien beurteilen, aber die Erwartungen, was Kinder können müssen, sind höher und standardisierter geworden. Das setzt das ganze System und letztlich die Kinder unter Druck.

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