Bildungsdirektorin Bircher im grossen Schulstart-Interview
«Kinder können nicht mehr mit einer Schere umgehen»

Ob Handyverbot, Frühfranzösisch oder integrative Schule: SVPlerin Martina Bircher greift als neue Aargauer Bildungsdirektorin ein und durch. Jetzt bereiten ihr gerade Kleinkinder Sorgen, die im Kindergarten Windeln tragen und vor allem kein Deutsch sprechen.
Publiziert: 00:46 Uhr
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Martina Bircher ist seit Anfang Jahr Aargauer Bildungsdirektorin.
Foto: Kim Niederhauser

Darum gehts

  • Martina Bircher setzt als neue Aargauer Bildungsdirektorin umstrittene Reformen um
  • Bircher plant Spezialklassen für Kinder mit Sprachdefiziten
  • Sie sagt: Die Schule müsse immer mehr Erziehungsdefizite der Eltern ausbaden
  • Nur 7 Prozent der Realschüler erreichen Grundkompetenzen in Französisch nach 9. Klasse
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

Diesen Montag beginnt für viele Kinder ein neuer Lebensabschnitt: Sie haben ihren ersten Schultag. Auch für Martina Bircher (41) ist der Tag aussergewöhnlich. Seit Anfang Jahr ist die frühere SVP-Nationalrätin Aargauer Bildungsdirektorin. Jetzt ist sie für die Schule in ihrem Kanton verantwortlich. Bircher zögerte bisher nie, anzuecken und ihre Meinung einzubringen. Wie schafft sie das als SVPlerin im Bildungsbereich? Blick traf die Aargauerin zum grossen Schulstart-Interview. 

Wie war Ihr erster Schultag?
Martina Bircher: Ich kann mich, ehrlich gesagt, nur an den Start im Kindergarten erinnern. Dafür wird der Schulstart für mich dieses Jahr ganz besonders, mein Sohn kommt in die erste Klasse. 

Wie ist das?
Als Mutter bin ich natürlich stolz. Und als Bildungsdirektorin finde ich es sehr bereichernd, die Schule auch aus dem Blickwinkel einer Mutter zu sehen. Auf der anderen Seite ist da auch eine Ungewissheit: Was kommt jetzt auf ihn zu? Kann er das alles? Er steht ja vielleicht ein bisschen im Fokus – mit so einem Mami, oder? (Lacht).

Sie sind seit sechs Monaten Bildungsdirektorin und haben in dieser Zeit einiges bewegt: Französisch steht auf der Kippe, Sie wollen wieder Spezialklassen einführen, haben ein Handyverbot erlassen. Sie greifen durch!
Das kann ich nicht beurteilen, ich überlasse es Ihnen (lacht). Aber ja, ich bin seit Januar im Amt und mache jetzt meine Arbeit. Dafür wurde ich gewählt. 

Pointierter formuliert: Sie bauen die Schule konservativ um. Wird die Bildung jetzt zum Ort des Kulturkampfs zwischen links und rechts?
Nein. Man spürt zwar eine gewisse Polarisierung, etwa bei der integrativen Schule. Aber es sollte nicht um links oder rechts gehen. Mir und einem Grossteil der Lehrer geht es um die Sache, sprich die Kinder.

Aber nehmen wir die Prüfungsnoten ab der dritten Klasse, die nach einem bürgerlichen Parlamentsentscheid im Aargau wieder eingeführt werden. Das ist gegen den Rat von Experten.
Wir sind liberal, jede Schule hat viel Handlungsspielraum. Wenn einzelne Schulen mit dieser Verantwortung nicht umgehen können und absurde Wege wählen, dann passiert das. 

Zur Person

Martina Bircher (41) ist seit Anfang Jahr Aargauer Regierungsrätin. Bekannt wurde die SVP-Politikerin als Nationalrätin sowie als Sozialvorsteherin der Gemeinde Aarburg. Bircher hat zuerst eine KV-Lehre gemacht und dann Betriebswirtschaft an der Fachhochschule Nordwestschweiz studiert. Sie und ihr Partner haben einen Sohn, der jetzt in die erste Klasse kommt.

Martina Bircher (41) ist seit Anfang Jahr Aargauer Regierungsrätin. Bekannt wurde die SVP-Politikerin als Nationalrätin sowie als Sozialvorsteherin der Gemeinde Aarburg. Bircher hat zuerst eine KV-Lehre gemacht und dann Betriebswirtschaft an der Fachhochschule Nordwestschweiz studiert. Sie und ihr Partner haben einen Sohn, der jetzt in die erste Klasse kommt.

Was meinen Sie damit?
Der Entscheid des Parlaments war ein Wink mit dem Zaunpfahl. Er war die Quittung dafür, dass einige Schulen zuvor übertrieben haben. Statt mit Noten haben sie die Kinder mit Blumentöpfchen heimgeschickt. Das Blümchen hat dann symbolisiert, ob ein Kind gut oder weniger gut war. Das sorgte für Unverständnis.

Sie sind eine eingefleischte SVPlerin. Jetzt arbeiten Sie in einem Milieu, das Ihre Partei als kategorisch links gebrandmarkt hat. Wie lebt es sich da?
Ich kann mit allen Menschen zusammenarbeiten. Wir alle haben das gleiche Ziel, nämlich die Kinder bestmöglich durch die Schulzeit zu begleiten. 

Seit Anfang Jahr ist Martina Bircher Aargauer Regierungsrätin. Langsam wird es in ihrem Büro wohnlicher.
Foto: Kim Niederhauser

Wo sehen Sie die grössten Baustellen im Schulbereich?
Es gibt drei Punkte. Wir haben ein Sprachproblem. Nur gut die Hälfte der Realschüler erreicht nach der 9. Klasse die Grundkompetenz in Deutsch. Und beim Französisch sind die Ergebnisse grottenschlecht. Ein grosses Thema sind aber auch die integrativen Schulen. 

Dort haben Sie durchgegriffen.
Die Einschulungsklassen und die klassischen Kleinklassen wurden in den letzten 15 Jahren massiv reduziert. Es gab nur noch Weiss und Schwarz: Regelklasse oder Sonderschule. Etwas dazwischen fehlte. Auch deshalb hat der Aargau eine sehr hohe Sonderschulquote. 

Sie führen wieder Spezialklassen ein, das ist höchst umstritten.
Ja, es ist ein sehr politisches Thema. Mein Motto ist: «Jedes Kind zur richtigen Zeit in der richtigen Klasse». Wenn wir uns von links bis rechts darauf einigen können, dann führen wir nicht die Grabenkämpfe. Integrativ heisst für mich: Alle Kinder gehen in das gleiche Schulhaus. Aber das heisst nicht, dass alle Kinder immer in der gleichen Klasse sitzen. Separativ sind Sonderschulen ausserhalb der Gemeinde. 

Und welches ist die dritte Baustelle?
Der Frühbereich: Wir haben immer mehr Kinder, die kein Deutsch können, wenn sie in den Kindergarten kommen. Selbst bei Schweizern mit Migrationshintergrund, die ihr Kind in ihrer Muttersprache erziehen, nach dem Motto: «Deutsch lernt es dann noch früh genug.» 

Wie wollen Sie dies angehen?
Diese Kinder sollten vorher eine Spielgruppe besuchen. Das Problem: Vor 30 Jahren hätte das funktioniert, heute ist es nicht mehr so einfach. Denn 80 Prozent der Kinder in der Spielgruppe müssten Deutsch sprechen, damit die anderen Deutsch lernen. Dieses Verhältnis erreichen wir nur noch in ländlichen Gemeinden. 

Was ist dann die Lösung?
Ich kann mir auch Spezialklassen vorstellen. Als der Ukraine-Krieg losging, kamen von einem Tag auf den anderen 20 ukrainische Kinder ohne Deutschkenntnisse in die Schule in Aarburg. Wir haben eine separate Klasse gemacht für ein halbes Jahr. Das hat super funktioniert. 

Als Sozialvorsteherin von Aarburg hatte sich Bircher einen Namen gemacht.

Eine Art Deutsch-Bootcamps?
Genau. Darüber denken wir nach. Und wir führen jetzt ein, dass Kinder ein Kindergartenjahr wiederholen können. Denn es gibt einfach Kinder, die sind am Ende des Kindergartens noch nicht fit für die erste Klasse. Da geht es nicht nur um Deutsch. Wir haben auch Kinder, die noch immer Windeln tragen. 

Den Kindern fehlen elementare Grundlagen für den Kindergarten?
Wir müssen immer mehr Erziehungsarbeit leisten und Defizite aus den Elternhäusern ausbaden. Kinder können nicht mehr mit einer Schere umgehen oder waren noch nie im Wald. Das können wir nur ändern, wenn wir frühzeitig ansetzen. 

Wie?
Mit Aufklärungsarbeit bei den Eltern. Wir müssen die Mütter- und Väterberatung ins Boot holen. Sie geht zu den frisch werdenden Eltern nach Hause. Ich kann mich noch selber daran erinnern, sie informierte mich über elementare Themen wie Gesundheit und Erziehung. Das möchte ich ausbauen, mit Themen wie Sprachentwicklung oder Medienumgang. 

Mit solch staatlichen Erziehungsratgebern greifen Sie aber stark in die Privatsphäre der Eltern ein.
Und ich bin ja sehr für Eigenverantwortung. Aber wenn es bei einigen in der Erziehung so stark hapert, kommt man an einen Punkt, an dem man handeln muss. Ich sehe Eltern, die ihr einjähriges Kind schon im Babywagen mit Filmen beschallen. Da müssen wir uns nicht wundern, wenn die Kinder Sprachstörungen haben beim Eintritt in den Kindergarten. 

Eine eingefleischte SVPlerin im angeblich linken Lehrermilieu? «Wir haben das gleiche Ziel», sagt Bircher.
Foto: Kim Niederhauser

Stichwort Handy: Sie führen nun ein Handyverbot ein. Wie kam dies an?
Nur positiv. Die Lehrer haben es durch das Band begrüsst. Wir haben klare Spielregeln, das gibt Sicherheit. Gerade bei den jüngeren Kindern waren etwa Smartwatches Thema. Eltern haben begonnen, ihr Kind im Unterricht zu überwachen. Das geht einfach nicht. 

Anderes Thema. Sie hinterfragen gerade den Französischunterricht.
In Französisch erreichen in der 9. Klasse nur gerade sieben Prozent der Realschüler die vorgesehenen Grundkompetenzen. Das kann man nicht schönreden. Da darf man keine Scheuklappen mehr haben. 

Sie werden Französisch also abschiessen?
Wir müssen ehrlich sein: Nur weil auf dem Stundenplan Französisch steht, heisst das noch lange nicht, dass die Kinder wirklich Französisch lernen. Ich glaube, wir müssen andere Wege suchen. 

Das heisst?
Bei einer Matura und bei gewissen Lehren braucht es Französisch, bei anderen wiederum nicht. Wir sollten daher auf die Lehrbetriebe, die Berufsschulen und die Gymnasien hören, statt mit innerschweizerischen Sprachdebatten an der Realität vorbeizupolitisieren. Trägt es da wirklich zum besseren Verständnis zwischen Romandie und Deutschschweiz bei, wenn man Kinder mit Französisch quält, die es später nie brauchen? 

Sie sind in der Realschule gestartet, gingen dann in die Sek und Bez. Sie haben also eher spät aufgedreht. Wie wichtig ist die Schule im Rückblick für Ihre Karriere?
Ich glaube, dass jedes Kind seinen Weg machen wird. Das sieht man an meinem Beispiel. Auch dank unseres dualen Bildungssystems und dessen Durchlässigkeit. Dazu sollten wir Sorge tragen. Die Eltern wiederum sollten etwas entspannter an die Sache herangehen, auch bei der Berufswahl ihrer Kinder. Das würde den Schulen, den Lehrern und auch den Kindern viel helfen.

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