Sie hoffen und bangen. 491 Schweizerinnen und Schweizer warteten letztes Jahr auf eine Spenderleber. Nur 133 wurden transplantiert. 36 Menschen starben, während sie auf der Warteliste standen. Irritierend dabei: Es stünden mehr Lebern zur Verfügung. Doch in Schweizer Spitälern werden wohl taugliche Spenderorgane nicht verwendet. Das zeigen Recherchen der «NZZ am Sonntag».
Kommt hinzu: In den letzten zwei Jahren seien 20 Schweizer Lebern ins Ausland exportiert worden, für die es passende Schweizer Empfänger gegeben hätte. Es sind Organe, die Schweizer Ärzte ablehnten, teilweise ohne sie vor Ort zu begutachten. Ärzte in Nachbarländern befanden die Lebern für tauglich und setzten sie ihren Patienten ein.
Schweizer Zentren sind zurückhaltender geworden
«Wir haben hier tatsächlich ein Problem», wird Franz Immer zitiert. «Die Organverwendungsquote ist in den letzten zwei Jahren markant gesunken. Bis vor wenigen Jahren war die Schweiz bei der Verwendungsquote europaweit zusammen mit Italien an der Spitze, heute sind wir unter dem Durchschnitt», sagt der Direktor der Stiftung Swisstransplant, die im Auftrag des Bundes Organspende und Transplantationen koordiniert. Heisst konkret: Die Spitäler transplantieren weniger der angebotenen Spenderlebern.
«Die Schweizer Zentren agieren seit einiger Zeit zurückhaltender bei Lebern, deren Spender nicht optimal scheinen», so Immer. Das betreffe vor allem Lebern, die nach Herz-Kreislauf-Stillstand statt nach Hirntod entnommen wurden. Es sei dabei zu schlechten Ergebnissen gekommen, die Immer auf eine mangelhafte Entnahmetechnik zurückführt. Das habe die Zentren zurückhaltender gemacht. Doch selbst bei den anderen, nach Hirntod entnommenen Lebern sind die Verwendungsraten gefallen, bestätigt Immer. Der Grund dafür ist unklar.
So könnten taugliche Organe schlicht durchs Raster fallen. «Bis vor zwei Jahren waren die Transplantationszentren noch eher bereit, ein Team zu schicken und auch Lebern von nicht optimalen Spendern vor Ort zu evaluieren oder im Zentrum an einer Maschine zu beurteilen – mit dem Risiko, dass man sie am Ende nicht verwenden kann. Heute ist diese Bereitschaft gesunken», wird Immer weiter zitiert. «Aufgrund dieser Situation kann es in einzelnen Fällen dazu kommen, dass taugliche Lebern am Ende nicht verwendet werden.»
«Was in der Schweiz passiert, ist sehr besorgniserregend»
Mitverantwortlich seien auch Zeit- und Kostendruck. Die Entnahme und die Evaluation von Organen seien sehr ressourcenintensiv, und sie werden nur von der Krankenkasse voll bezahlt, wenn das Organ auch transplantiert wird.
Auch im Ausland werde die Situation kritisch betrachtet. «Was in der Schweiz passiert, ist sehr besorgniserregend. Es ist weltweit äusserst ungewöhnlich, dass ein Land Organe ins Ausland exportiert, obwohl es selbst eine lange Warteliste hat», so Peter Lodge, Präsident der European Surgical Association. «Solange inländische Patienten auf der Warteliste sterben, sollten keine Organe ins Ausland gehen.»
Die Weitergabe ins Ausland bewertet auch Immer als «schwierig», da es wegen der langen Warteliste für jedes der Organe einen passenden Schweizer Empfänger gegeben hätte. Gerade bei älteren Spendern aber passiere es mehrfach, dass alle Schweizer Zentren es ablehnten, eine bestimmte Leber vor Ort zu evaluieren – jedoch italienische Ärzte in die Schweiz reisten, die Leber überprüften und sie einem italienischen Patienten transplantierten.
Hoffen auf medizinischen Fortschritt
Der Fokus liege immer auf dem optimalen Ergebnis für den Patienten, reagiert das Unispital Zürich auf Anfrage der «NZZ am Sonntag». So werde auf die Transplantation eines Organs verzichtet, wenn die Aussicht auf Erfolg zu gering sei. Zudem habe sich die Qualität der Lebern, etwa wegen des steigenden Alters der Spender, verändert.
Das Inselspital Bern habe keine Stellung genommen. Das Unispital Genf erklärt, der zurückhaltende Genfer Ansatz führe zu ausgezeichneten Resultaten, die «wahllose Akzeptanz» von Lebern dagegen zu erheblichen Risiken. Die ins Ausland exportierten Organe zeigten «variable Ergebnisse». Zentral sei die Einführung einer neuen Entnahmetechnik, die bisher nur in Genf angewendet werde.
Ob es wegen der Zurückhaltung bei den Transplantationen zu mehr Todesfällen von Menschen auf der Warteliste gekommen sei, könne man nicht beantworten, sagt Swisstransplant-Direktor Immer. Die Todesfallrate sei von zu vielen Faktoren abhängig. Unklar sei auch, ob der Verzicht auf gewisse Organe dazu führe, dass die Ergebnisse bei erfolgten Transplantationen besser ausfallen. Dazu lägen noch keine Daten vor.
Immer aber hoffe auf den medizinischen Fortschritt: «Wir arbeiten mit Hochdruck daran, die neue Entnahmetechnik schweizweit einzuführen, damit sich die Verwendungsrate erhöht. Wir versuchen momentan, dafür die Finanzierung sicherzustellen.»