Schweizer Regisseurin
Yangzom Brauen begleitet ihr Grosi Mola dokumentarisch in den Tod

Im Exil sehnt sich Mola nach ihrer Heimat. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als ihren letzten Atemzug in Tibet zu erleben. In ihrem Dokumentarfilm halten Regisseurin Yangzom Brauen und ihr Vater Martin Brauen berührende Momente mit ihrem Grosi fest.
Publiziert: 14.09.2025 um 20:03 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2025 um 20:05 Uhr
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Regisseurin Yangzom Brauen gehört zu den erfolgreichsten Schweizerinnen im Filmbusiness in Hollywood. Ihr persönlichstes Werk ist das jetzige über ihr Grosi Mola.
Foto: Ellin Anderegg

Darum gehts

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Toni Rajic
Schweizer Illustrierte

Drei gehäufte Löffel Tsampa rieseln in eine Schüssel. Das Mehl aus gerösteter Gerste staubt fein auf. Dazu einige Kerne, Rohzucker, etwas Butter und einen Schuss Milch. «Das ist die Luxusvariante», sagt Sonam Brauen (70) und lacht auf. Dann hält sie inne, wird ernst: «Auf der Flucht über den Himalaja haben wir es nur mit kaltem Wasser angerührt. Dieses einfache Essen hat mir das Leben gerettet.»

Von Heimatgefühl und Dankbarkeit getrieben, stellt Sonam Brauen ihr eigenes Tsampa her und verkauft das tibetische Grundnahrungsmittel online und in Fachmärkten.
Foto: Ellin Anderegg

Sonam ist sechs Jahre alt, als sie mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester Tibet verlassen muss. Nach dem Einmarsch der chinesischen Armee in den 50er-Jahren bleibt vielen nur die Flucht über die hohen Pässe Richtung Indien. Ihre jüngere Schwester, eingewickelt in ein Tuch und auf den Rücken der Eltern gebunden, übersteht die Strapazen des Marsches nicht. Feuer dürfen sie keines entzünden, schliesslich könnte der Rauch sie verraten. Auch ihre Mama, Kunsang Wangmo, die alle liebevoll Mola (Grossmutter) nennen, wird fürs Leben gezeichnet. Beim langen Fussmarsch frieren ihr mehrere Zehen ab. Damit nicht genug: Kaum hat sich die Familie in der neuen Umgebung zurechtgefunden und ein Leben aufgebaut, stirbt krankheitsbedingt auch der Vater. Doch das Mutter-Tochter-Gespann nimmt die Schicksalsschläge und das Leid hin. Ohne Wut oder gar Hass. Negative Emotionen lässt ihr buddhistischer Glaube nicht zu. Im Gegenteil: «Wir haben stets Dankbarkeit für das Leben verspürt», beteuert Sonam. Mola, die seit jungen Jahren als Nonne lebt, sich intensiv der Spiritualität und den Lehren hoher Lamas hingibt, findet auch in dieser schwierigen Phase Halt und Kraft in der Religion.

Die buddhistische Nonne Kunsang Wangmo, wie Mola bürgerlich heisst, lebte fast 60 Jahre fern von ihrer Heimat Tibet.
Foto: Ellin Anderegg

Wo die Liebe hinfällt

«Söneli, lueg mau», ruft Martin Brauen (77) seiner Frau zu und zeigt mit dem Finger auf ein Bild im Fotoalbum. «Kannst du dich erinnern, da waren wir zusammen am Ganges.» Selbstverständlich weiss Sonam Bescheid. Kein Wunder, denn nur kurz zuvor hatten sich die beiden in Delhi kennengelernt und Hals über Kopf ineinander verliebt. Den Berner hat es in seinen frühen Zwanzigern für sein Buddhismus-Studium in die Ferne gezogen. Doch rasch merkt er, dass ihn das breite Feld der Ethnologie viel mehr interessiert, weshalb er in Indien sein Studium abbricht. Klar ist aber: Sonam, seine Frau fürs Leben, muss mit ihm zurück! Für sie aber kommt ein Umzug in die Schweiz nur infrage, wenn sie ihre Mama mitnehmen kann.

«Bei schlechten Gedanken erinnere ich mich an Mola, die das niemals zugelassen hätte», verrät Sonam (M.) ihrem Gatten Martin und Tochter Yangzom.
Foto: Ellin Anderegg

Eine grosse Entscheidung, über die sich Mola mit ihrem engsten Guru austauscht – ganz zum Unmut von Martin. Denn der Geistliche rät Mola und ihrer Tochter davon ab. «Ich habe in diesem Moment die Welt nicht verstanden und konnte nicht nachvollziehen, wie man so viel Wert auf den Rat einer Person legen konnte», erinnert sich Martin. «Für mich war es doch das Wichtigste, mit Sonam vereint zu sein.» Nach zwei Jahren Geduldsprobe folgt die Erlösung. Molas geistiger Lehrer gibt 1973 seinen Segen für den Umzug in die Schweiz. In der neuen Heimat angekommen, finden sich die Frauen schnell zurecht. Auch die Liebe von Martin und Sonam gedeiht und wird mit der Geburt von Tochter Yangzom und Sohn Tashi gekrönt. Doch etwas bleibt – vor allem bei Mola – unverändert: der Fokus auf die geistliche Weiterentwicklung. Nicht nur die Spiritualität, sondern die ganze tibetische Kultur prägen entsprechend den Alltag der Brauens.

Am liebsten von der Familie um-geben: Mola (r.) lebte im Schweizer Exil im Drei-Generationen-Haushalt.
Foto: Ellin Anderegg
Artikel aus der «Schweizer Illustrierten»

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

Fast geschafft

Auch den von Yangzom. Sie lebt zwar heute in Los Angeles, führt regelmässig in Hollywood Regie und gehört zu den erfolgreichsten Schweizer Filmemacherinnen. Doch ihre Wurzeln bleiben präsent. «Mola hat mich stark geprägt. Als mein Bruder und ich jünger waren, hat sie mit uns immer viel Seich gemacht. Bis zuletzt war sie sehr neckisch unterwegs und kokettierte – nur wenns ums Gebet ging, kannte sie keinen Spass. Ich bin bei Weitem nicht so religiös wie Mola, doch jedes Mal, wenn ich mich in einen Flieger setze, bete ich. Das verbindet mich auf eine spezielle Art mit ihr», sagt die 45-Jährige.

Der Garten im Elternhaus von Regisseurin Yangzom Brauen in Bern schenkt ihr Ruhe und Inspiration für ihr Filmprojekt mit Papa Martin.
Foto: Ellin Anderegg

Dieses tiefgehende Interesse an Mola, ihren Überzeugungen und Interessen prägt auch ein gemeinsames Projekt von Vater und Tochter: ein Dokumentarfilm. Ursprünglich soll er Molas Spiritualität beleuchten. Doch alles ändert sich, als die Nonne gegenüber ihrem Enkel Tashi den letzten Wunsch äussert, in Tibet, dem buddhistischen Paradies, sterben zu dürfen. Von diesem Moment an dreht sich alles nur noch um diese Herzensangelegenheit. Die Familie kämpft um ein Visum, wartet monatelang, bis die Bewilligung endlich eintrifft. Sie begleiten die 100-Jährige nach Nepal, wo sie emotional Abschied nehmen. «Es war unglaublich schwer», sagt Sonam leise. «Mein ganzes Leben war ich an ihrer Seite. Nun wusste ich, dass sie gehen will, um zu sterben. Gleichzeitig hätte ich mir nie verziehen, wenn ich ihr diesen Wunsch verwehrt hätte.»

Mola erreicht Tibet. Zunächst geniesst sie die Zeit. Doch dann der Rückschlag: Die chinesischen Behörden verlängern ihr Visum nach sechs Monaten nicht. Die alte Frau muss zurück in die Schweiz. Der Rückweg ist beschwerlich, ihre Kräfte schwinden. Merklich gealtert kommt sie daheim an und muss in ein Pflegeheim – für rund zwei Monate. Bis sie stirbt.

Erinnerungsstücke an Mola: Reis als Opfergabe mit Figuren von Heiligen, Tsa-Tsa-Form und Ledertäschchen mit eingenähten Gebeten.
Foto: Ellin Anderegg

Ein Abschied für immer

Ihre Asche findet schliesslich doch den Weg zurück nach Tibet. Mönche formen daraus über 1000 Tsa-Tsas – kleine, aus Asche und Lehm gepresste Figuren, die nahe einem Bach, in einem eigens gebauten Häuschen platziert werden.

Aus dieser letzten Reise entsteht schliesslich der Film «Mola – eine tibetische Geschichte von Liebe und Verlust», der derzeit in den Kinos läuft. Für die Familie ist es mehr als ein Werk. «Es trägt ein Stück tibetischer Kultur in die Welt hinaus, damit sie nicht in Vergessenheit gerät», sagt Sonam merklich stolz. Und doch, ein leicht mulmiges Gefühl schwingt bei ihr seit dem Abschied ihrer Mutter mit: «Der Tod ist nun für mich präsenter denn je. Nun ist für mich fassbar, dass unsere Zeit endlich ist und auch mir nicht mehr viel bleibt.» Yangzom hebt die Augenbrauen und blickt zu ihrer Mama. «Wenn du nach Mola kommst, hast du ja noch 30 Jahre», sagt sie schmunzelnd. Sonam winkt ab. «Ach, was. Sie hat viel gebetet, intensiv geglaubt und war im Reinen mit sich. Ich nicht.» Wo soll ihre letzte Reise hinführen? «Auch ich werde wohl in meine Heimat nach Tibet reisen wollen. Das ist ein spezielles Gefühl tief in meinem Herzen.» – «Wenn du das willst, werden wir alles daransetzen, dass das möglich wird», verspricht Yangzom.

Das Schicksal hat sie vereint: Martin und Sonam Brauen sind seit mittlerweile 53 Jahren glücklich verheiratet.
Foto: Ellin Anderegg

«Mola – eine tibetische Geschichte von Liebe und Verlust», jetzt im Kino. Alle Spielorte unter: www.molafilm.com 

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