Model Anja Leuenberger über sexuellen Missbrauch
«Das Schwierigste ist, sich selber zu verzeihen»

Zuerst verdrängte sie es, dann schämte sie sich zu sehr: Anja Leuenberger (27) machte vor einer Woche publik, dass sie als Teenager zweimal vergewaltigt wurde. Damit will das Model anderen Betroffenen Mut machen.
Publiziert: 13.06.2020 um 23:32 Uhr
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Aktualisiert: 18.06.2020 um 08:43 Uhr
Anja Leuenberger zählt zu den erfolgreichsten Schweizer Models im Ausland.
Foto: Getty Images
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Katja Richard

Beim ersten Mal war sie erst 15, Anja Leuenberger wurde in einem Zürcher Nachtclub von einem unbekannten Mann in einen Nebenraum gezerrt und vergewaltigt. Drei Jahre später wurde sie nach einem Nachtessen in Los Angeles (USA) erneut zum Opfer. Den Täter kannte sie, er gehörte zur Tischrunde. Er drängte sie abseits an eine Wand, würgte und vergewaltigte sie – quasi mitten im Restaurant. Niemand kam der jungen Frau zu Hilfe. Leuenberger leidet bis heute an Panikattacken und konnte erst Jahre später über die traumatischen Vorfälle sprechen. Letzte Woche machte sie das Geschehene mit ihrem Buch «The Depths of My Soul» öffentlich.

Sie haben jahrelang geschwiegen. Warum sprechen Sie jetzt?
Anja Leuenberger: Ich hatte meine Stimme verloren. Wegen Corona hatte ich die letzten zwei Monate Zeit, endlich mein Buchprojekt umzusetzen. Motiviert hat mich die MeToo-Bewegung – diese Frauen haben mir Mut gemacht. Jetzt möchte ich meinen Namen und Einfluss für etwas Positives nutzen und anderen jungen Menschen mit meinen Worten Mut machen. Ich will nicht nur hübsche Selfies posten, sondern etwas bewegen. Als Veganerin tue ich das bereits seit Jahren.

Viele wundern sich, wieso Sie damals nicht zur Polizei gingen. Können Sie in Worte fassen, was als 15-Jährige in Ihnen vorgegangen ist?
Was mir damals passiert ist, darüber lernt man nichts in der Schule oder daheim, wenn man über Blümchen und Bienen spricht. Auf so einen Übergriff ist man nicht vorbereitet. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich wollte es nicht wahrhaben, war extrem verwirrt und habe es verdrängt. Als es mit 18 nochmals passierte, löste das erneut einen Schock aus, ekelte mich an. Ich fühlte mich beraubt, schämte mich und war ganz allein. Es war das erste Mal, dass ich als Model in den USA war. Ich lebte zwar in einem Apartment mit anderen Mädchen, aber die waren mir mehr fremd als vertraut.

«Ich war bestimmt nicht die Einzige, der sie das angetan haben»
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Model Anja Leuenberger:«Ich wurde zweimal vergewaltigt»

Warum haben Sie beim zweiten Mal keine Anzeige gemacht?
Logisches Denken war schwierig. Ich wollte nur weg von dieser Situation und diesen Gefühlen. Aber auch sieben Jahre später, als ich endlich darüber reden konnte, wollte ich nicht nochmals alles im Detail aufrollen. Inzwischen waren beide Täter von anderen Opfern angezeigt und bestraft worden. Ich war nicht die Einzige, der sie das angetan haben.

Sie sind auch mit ihrem Schweigen nicht allein. Haben Sie gewusst, dass von allen vergewaltigten Frauen in der Schweiz nur acht Prozent Strafanzeige einreichen?
Nein. Das ist wirklich erschreckend – aber erstaunt mich nicht. Ich kann nachvollziehen, was in einer Frau da vorgeht. Es ist schon schwierig genug, mit Nahestehenden über die Übergriffe zu reden. Aber auf die Polizei gehen, sich beim Gynäkologen untersuchen lassen und nochmals alles im Detail durchleben zu müssen ...

Die beiden Täter wurden bestraft. Wie wichtig ist Ihnen das?
Es war eine Genugtuung, aber nicht das Ausschlaggebende. Mein Trauma habe ich trotzdem. Mir wurde etwas genommen, was aber auch der Anstoss war, an mir zu arbeiten. Ich habe intensiv meditiert und realisiert, was mir passiert ist. Ich definiere mich aber nicht darüber. Loslassen kann ich das Geschehene nur, wenn ich den Tätern vergebe. Einfach war das nicht, geholfen hat mir ein hawaiianisches Vergebungsritual, es ist sehr kraftvoll. Meine schönste Genugtuung ist, dass ich zeigen kann, dass mich das nicht zerstört hat, sondern mich in gewisser Weise gestärkt und zu der Frau gemacht hat, die ich heute bin.

Macht man sich nach einem Übergriff selber Vorwürfe?
Oh ja, ich ganz besonders. Ich bin extrem nett, helfe und gebe gerne. Da fragt man sich nachher: War ich zu nett? Zu sexy gekleidet? Habe ich mich zu wenig gewehrt? Das Schwierigste ist, sich selber zu verzeihen. Es ist viel einfacher, schlechte Dinge über sich zu glauben als gute. Mich und meinen Körper zu akzeptieren, das hat 26 Jahre gedauert. Es klingt vielleicht merkwürdig, aber Models sind die unsichersten Menschen, die es gibt.

Wie schwierig war es für Sie, wieder einem Mann zu vertrauen?
Erstaunlicherweise war das gar nicht schwer. Meine erste grosse Liebe vor sieben Jahren – ein Mann – war auch der erste Mensch, dem ich mich endlich anvertrauen konnte. Das war sehr heilsam für mich. Und man kann Männer nicht generell verurteilen, nur weil dir zwei von ihnen was Schlimmes angetan haben.

Ist man als Model besonders für sexuelle Übergriffe gefährdet?
Mich hat nur einmal ein Fotograf bedrängt, mich auszuziehen. Das habe ich sofort der Agentur gemeldet, auch um andere Models zu schützen. Eine Weile dachte ich, dass jeder von uns schon so etwas passiert ist. Aber seit ich mit anderen darüber rede, weiss ich, dass es viele Models gibt, die nichts Negatives erlebt haben. Übergriffe gibt es überall, wo es ein Machtgefälle gibt – das betrifft nicht nur die Modeindustrie.

Ist Ihnen die Model-Welt danach nie verleidet?
Nein. Was mir passiert ist, hatte nichts mit dem Modeln zu tun. Ich liebe meinen Job, sonst hätte ich ja nicht weitergemacht. Und ich habe hart für meinen Erfolg gearbeitet. Richtig Geld habe ich erst mit 21 Jahren verdient, vorher musste ich mit 50 Dollar die Woche auskommen. Und ich hatte Möglichkeiten und Erfahrungen, die ich sonst nie gemacht hätte – ich fühle mich innerlich reifer als 27.

Eine Woche ist vergangen, seit Sie an die Öffentlichkeit sind. Wie geht es Ihnen heute damit?
Ich bin überwältigt – im positiven Sinne. Es kommen so viele Reaktionen, Menschen, die sich mir anvertrauen. Es ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht über das Passierte gesprochen habe. Das hat einen emotionalen Prozess ausgelöst. Und manches kommt wieder hoch. Dann setze ich mich hin und meditiere, manchmal kommen Tränen.

Sie leben allein in New York. Fühlen Sie sich nie einsam?
Doch, besonders jetzt in der Quarantäne. Aber seit zwei Monaten habe ich einen kleinen Dackel, Pickles. Wenn ich morgens aufwache und ihn neben mir auf dem Kissen liegen sehe, fühle ich mich so geliebt. Nur Tiere können diese bedingungslose Liebe geben. Er unterstützt mich emotional – und hat sogar einen Ausweis als Therapiehund. Wenn ich demnächst mal wieder in die Schweiz fliege, darf er darum auf meinem Schoss mitreisen.

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Models erklären auf Blick TV:So schmutzig ist das Model-Business
Von Fislisbach nach New York

Bereits als 14-Jährige wird Anja Leuenberger als Model entdeckt, mit 19 läuft sie bei der Energy Fashion Night über den Laufsteg. Zwei Jahre später strebt sie eine internationale Karriere an und zieht von Fislisbach AG nach New York. Heute zählt die Veganerin zu den erfolgreichsten Schweizer Models im Ausland. Sie arbeitete für Designer wie Dolce & Gabbana und Moschino.

zvg

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