Franziska Föllmi (41) machte gerade Ferien in der Toskana, als die Pandemie Anfang Oktober in ihrem Spital in Schwyz ankam. Das Handy der Direktorin klingelte. Ob sie es schon gehört habe: fünf positiv getestete Spital-Mitarbeiter. An einem Tag. «Da wusste ich, die Ferien sind vorbei», sagt Föllmi.
Die erste Welle war am Spital Schwyz vorbeigerollt, ohne grosse Spuren zu hinterlassen. Das grösste Problem des Spitals war bis dahin das manchmal knapp vorhandene Schutzmaterial – und die Einbussen, durch ausfallende Operationen. Das ist nicht nichts, klar. Das Spital Schwyz hat eine private Trägerschaft. Föllmi ist keine Medizinerin, sondern Managerin. Gesundes Wirtschaften ist wichtig. Aber das Horrorszenario überfüllter Covid-Stationen – es blieb eine Geschichte, die sich anderswo abspielte. Die Anzahl der bis im Oktober infizierten Angestellten: fünf – der letzte im April. Die Anzahl der stationären Covid-Patienten bis dahin: 30.
Als Föllmi, zwei Tage nach dem alarmierenden Anruf, am 8. Oktober wieder in ihrem Büro im Spital sitzt, hat sich die Lage weiter zugespitzt. Föllmi und ihre Mitarbeitenden erfahren, was die mathematische Formulierung «exponentielles Wachstum» im Spitalalltag bedeutet: ein stationärer Fall, zwei, vier, acht, sechzehn stationäre Fälle. Waren im September noch maximal zwei positive Tests pro Woche zu verzeichnen, vervielfachte sich dieser Wert in der zweiten Oktoberwoche auf über 90 positive Tests. Die Covid-Betten füllen sich rasant.
Im Spital droht der Kollaps, in der Mehrzweckhalle wird gejodelt
Tage mit «erhöhtem Stresslevel» brechen an, wie es die Direktorin im Nachhinein nüchtern beschreibt. Der Stress rührt auch daher, dass man im Spital vor dem Kollaps steht, der Rest des Kantons aber gemächlich über Pro und Kontra von härteren Schutzmassnahmen laviert – und jodelt.
Im Mythen-Zentrum spielte noch Ende September das Jodel-Musical «Uf immer und ewig». Zwei Shows. Ausverkauft. Über 600 Zuschauer. Später sollte klar werden: Das Juchzen beschleunigte die Verbreitung des Virus massiv. Auch als im Spital Schwyz bereits die Plätze knapp werden, trägt im Kanton in der Öffentlichkeit noch kaum jemand eine Maske.
Föllmi sagt es so: «Wir erlebten bei uns eine Entwicklung, die draussen noch nicht angekommen war!»
Zehntausende sehen das Video
Am Dienstag, 13. Oktober, entschliessen sich Föllmi und ihre Kadermitarbeiter zu handeln. Die für Marketing und Kommunikation zuständige Mitarbeiterin nimmt ihr Smartphone und filmt: den Chefarzt und Virologen, den Leiter Pflege, die Direktorin. Sie alle appellieren an die Schwyzer Bevölkerung, ihr Verhalten zu ändern. Föllmi sagt im Video: «Wir können es als Spital nicht mehr stemmen, wenn die Fallzahlen weiter steigen!»
Danach unterlegt die Kommunikationsmitarbeiterin das Video mit dramatischer Musik – und lädt es auf Youtube.
Das Video geht viral. Zehntausende schauen es sich an.
Und es zeigt Wirkung. «48 Stunden später hatte sich das Verhalten der Bevölkerung sichtbar verändert. Viel mehr Bürgerinnen und Bürger trugen eine Maske – Anlässe mit Publikum wurden abgesagt», sagt Föllmi. Auch die Politik zieht nach und verschärft die Massnahmen im Kanton.
CNN und die «New York Times» berichten über das Spital Schwyz
«Wir wussten schon, dass es eine Wirkung haben wird, wenn ein Spital sich mit einer eindringlichen Botschaft an die Bevölkerung wendet», sagt Föllmi. Aber dass die Wirkung so weit über den Kanton Schwyz hinausgeht, überraschte sie dann doch. Die Weltpresse wird auf das Video des Alpen-Spitals aufmerksam, das um Hilfe ruft, weil die Region das Jodeln nicht lassen kann und deshalb zu einem Hotspot wird. Die Geschichte ist zu gut. CNN und die «New York Times» berichten.
Doch nicht alle sind begeistert. Föllmi erhält auch Anrufe zu Hause. Von aufgebrachten Bürgern «mit sehr pointierten Aussagen». Auch im Kantonsrat wird das Spital Schwyz attackiert. «Panikmache!», «Propaganda!». Föllmi sagt: «Mir tut es vor allem leid für meine Mitarbeitenden, die zum Teil aus ihrem engsten Umfeld starke Reaktionen erhielten.»
Derzeit ist die Lage im Spital in Bezug auf die Pandemie ruhig. Seit Oktober wurden 290 Covid-Patienten stationär behandelt. Mittlerweile läuft das Impfzentrum. Über 2500 Impfdosen wurden schon verabreicht. Föllmi sagt: «Nächsten Herbst sehen wir dann, ob wir es geschafft haben. Ich glaube daran.»