Die Zahl der vom Grenzwachtkorps aufgegriffenen illegalen Migranten ist in den letzten Monaten deutlich gesunken – im Vergleich zum ersten Quartal 2015 aber gestiegen. Das gleiche Muster zeigt sich bei den Asylgesuchen: Vom vierten Quartal 2015 zum ersten Quartal 2016 betrug der Rückgang 45 Prozent. Vergleicht man aber jeweils die beiden ersten Quartale miteinander, beträgt der Zuwachs 85 Prozent.
Doch was heisst das für die Zukunft? Das weiss offenbar niemand so richtig. Dass die weitere Entwicklung schwer abschätzbar ist, betonte selbst der für das Grenzwachtkorps zuständige SVP-Bundesrat Ueli Maurer kürzlich im BLICK-Interview: «Im Frühling und Sommer rechnet man wieder mit einem höheren Migrationsdruck – insbesondere an der Südgrenze.
Aber es gibt sehr viele Unwägbarkeiten, was eine Prognose schwierig macht.» Und auch SP-Justizministerin Simonetta Sommaruga arbeitet in ihrer Asyl-Notfallplanung mit verschiedenen Szenarien, weil niemand weiss, wie sich die Lage wirklich entwickelt.
Sechs Einflussfaktoren
Doch warum sind Prognosen so schwierig? Das Problem: Die Zahl der Migranten, die in die Schweiz kommen, hängt von den unterschiedlichsten Faktoren ab. Gegenüber BLICK nennt die Eidgenössische Zollverwaltung, zu welcher das Grenzwachtskorps gehört, sechs Punkte, welche die Migrationsströme beeinflussen können.
> Die Situation in den Herkunftsländern: Ob jemand flüchtet, hängt meist von seiner Situation im Herkunftsland ab. Viele Ländern des Mittleren und Nahen Ostens sowie zahlreiche afrikanische Staaten sind geprägt von instabilen politischen oder wirtschaftlichen Verhältnissen bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Verschlimmert sich die Situation, führt dies zu stärkeren Flüchtlingsströmen. Verbessert sich die Situation, bleiben die Leute oder kehren Geflüchtete zurück.
> Die geografische Lage: Wohin jemand flüchtet, hängt auch davon ab, woher er flüchtet und welche Fluchtrouten sich ihm anbieten. Personen, die via Nordafrika nach Europa migrieren, nutzen dazu in der Regel die westafrikanische Route (via kanarische Inseln), die westliche Route (via Spanien) oder die zentrale Mittelmeer-Route (via Italien). Wer via Türkei aus dem Mittleren und Nahen Osten nach Europa flüchtet, nutzt dazu meistens die östliche Mittelmeer-Route (via Griechenland) und dann weiter die westliche Balkan-Route (via Ungarn, Kroatien) und in seltenen Fällen über Weissrussland oder die Ukraine die Osteuropa-Route (via Polen, Ungarn, Slowakei, Rumänien, Litauen, Estland, Lettland und Finnland). Je nach Entwicklung kommt es aber zu Ausweichbewegungen: So ist es möglich, dass wegen der praktisch geschlossenen Grenzen in Österreich nun die Adria-Route vom Balkan nach Italien an Bedeutung gewinnt.
> Die Distanzen: Aufgrund der langen Strecken vom einen Kontinent zum anderen (also von Asien oder Afrika nach Europa) legen die Flüchtlinge manchmal auch längere Zwischenhalte in anderen Ländern ein und entscheiden sich erst zu einem späteren Zeitpunkt, weiter in andere Staaten zu migrieren. Zum Teil wird bei diesen Zwischenhalten gearbeitet, um sich so die Weiterreise zu finanzieren.
> Die Wetter-Bedingungen: Die Wetter-Bedingungen haben auf gewissen Routen einen entscheidenden Einfluss auf das Migrationsverhalten. Die Mittelmeerroute beispielsweise ist im Herbst und Winter aufgrund stürmischer See viel schwieriger zu durchqueren als im Frühling und Sommer. Das führt dazu, dass in den kälteren Monaten der Landweg an Bedeutung gewinnt.
> Die Massnahmen der betroffenen Staaten: Massgeblich beeinflusst wird das Migrationsverhalten auch von den Massnahmen der europäischen Staaten oder der Staaten, in denen Migranten einen Zwischenhalt eingelegt haben. Macht Österreich die Balkan-Route praktisch dicht, kommen weniger Flüchtlinge über die Ostgrenze in die Schweiz. Dafür könnten mehr via Süden in die Schweiz kommen, wenn sie auf die Adria-Route und damit Italien ausweichen. Oder als Deutschland bei afghanischen Flüchtlingen die Asylpraxis verschärfte, kamen mehr Afghanen via Nordgrenze von Deutschland her in die Schweiz.
> Der persönliche Entscheid: Schlussendlich sind auch die persönliche Situation der Migranten vor Ort sowie der persönliche Entscheid ausschlaggebend. Einfluss hat dabei auch, dass Migranten aus dem gleichen Land oder Kulturkreis oft miteinander in Kontakt stehen und sich so gegenseitig über ihre Situation oder über weitere Möglichkeiten informieren. So landen zum Beispiel viel mehr Eritreer in die Schweiz als in Österreich. Allerdings werden von Schleppern auch gezielt Falschinformationen verbreitet, um so Hoffnungen zu wecken und zur Migration zu verleiten.
Das Fazit von EZV-Sprecher Attila Lardori: «All diese Faktoren verunmöglichen eine präzise und abschliessende Vorhersage.»