Darum gehts
- Kinder werden zunehmend mit Smartwatches und Trackern überwacht
- Überwachung beeinträchtigte die Entwicklung der Kinder und ihre Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, sagen Fachleute
- Ab zwölf Jahren müssen Kinder laut Uno-Konvention zu elektronischer Überwachung durch ihre Eltern angehört werden
Die Geschichte tönt abstrus. Doch sie spiegelt eine neue, reale Welt in Kindergärten, Schulen und Horten: Ein fünfjähriges Mädchen ruft nach einem Streit im Kindergarten mit seiner Smartwatch die Mutter an. Nur eine Intervention der Kindergärtnerin konnte diese davon abhalten, in den Unterricht zu kommen und das Mädchen zu trösten.
Thomas Minder (49), der Leiter der Volksschule in Eschlikon TG und Präsident des nationalen Schulleiterverbands, erzählt diese Anekdote. Er beobachtet besorgt, dass zusehends Kinder mit Uhren und Trackern überwacht werden. «Das ist äusserst problematisch», sagt Minder. Die Kinder realisierten, dass stets jemand quasi neben ihnen stehe. «So übernehmen sie weniger Verantwortung für ihr Handeln.» Frusterlebnisse mute man ihnen weniger zu. Minder gibt zu bedenken: «Die Kinder sollten selbständig werden, haben aber kaum mehr eine Möglichkeit, dies zu trainieren.»
Stets in Sorge
Eltern, die den Aufenthaltsort ihrer Kinder permanent kennen wollen, irritieren Lehrpersonen auch auf Schulausflügen und in Klassenlagern. Betreuerinnen und Betreuer berichten, wie sie in Rucksäcken Tracker entdecken und Schülerinnen und Schüler über Uhren stets in Kontakt mit ihrer Familie stehen. Manche Eltern hätten den Anspruch, über jeden Schritt ihrer Sprösslinge orientiert zu sein. Immer und überall.
Dazu sagt der oberste Schweizer Schulleiter Thomas Minder: Diese Überwachungsmentalität schwäche die Entwicklung der Kinder, während die dazugewonnene Sicherheit gering sei. «Durch zufällige Begegnungen mit Fremden sind Kinder wenig gefährdet.» Die grösste Gefahr – was etwa Entführungen oder sexuelle Übergriffe betreffe – gehe von Verwandten und Bekannten aus.
In Minders Primarschule in Eschenbach müssen die Kinder «störende Geräte» zu Unterrichtsbeginn abgeben. Am Ende des Halbtages erhalten sie diese wieder zurück. Nach seiner persönlichen Erfahrung tracke eine Minderheit der Eltern ihren Nachwuchs. Doch er sei sich nicht sicher, ob diese Einschätzung zutreffe, räumt Minder ein: «In der ‹Apple-Welt› ist es sehr einfach, jemanden mit einem Gerät zu überwachen.»
Grosser Aufschrei
Im Sommer 2024 hatte ein Hort in Birmensdorf ZH angekündigt, in einem Pilotprojekt Kinder auf dem Schulgelände mit einem Armband zu tracken. Dies ermögliche den Aufsichtspersonen, auf dem weitläufigen Areal jederzeit den Aufenthaltsort der Schützlinge zu kennen, begründeten die Verantwortlichen ihre Absicht. Doch die Primarschule brach den Versuch in ihrem Hort ab, bevor sie ihn gestartet hatte. Schon die Ankündigung hatte national für Schlagzeilen gesorgt. Postwendend wurden die Initianten mit Bedenken und offenen Fragen konfrontiert. Datenschützer etwa bezeichneten die elektronische Unterstützung als «unverhältnismässig». Weiter wurde die Kritik laut, dass weder Eltern noch Kinder in das Projekt miteinbezogen worden seien.
Laut Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen haben Kinder ein Recht auf Privatsphäre. Ab zwölf Jahren müssen sie zustimmen, falls ihre Eltern sie elektronisch überwachen wollen. Dennoch stellen Fachleute fest, dass Kinder häufig ohne deren Wissen getrackt werden.
Gebräuchliches Mittel
In der Westschweiz praktizieren einige Gemeinden seit Jahren, was in Birmensdorf nicht realisiert wurde. So tracken Waadtländer Gemeinden Kinder auf dem Schulweg. Falls diese nicht in den Schulbus einsteigen oder diesen an der falschen Haltestelle verlassen, können die Eltern dies dank elektronischem System nachvollziehen. Das Tracking ist nicht obligatorisch, wer nicht will, muss sich nicht beteiligen.
Neben Überwachungsapplikationen sind auch Systeme zum Datenaustausch verbreitet – und ein lukratives Geschäft für die Anbieter. Zahlreiche Kindertagesstätten zum Beispiel informieren die Eltern per App, wie lange ihr Baby geschlafen oder was es gegessen hat. Die Eltern melden auf elektronischem Weg, wenn ihr Kind krank ist oder wann sie es abholen. Diese technischen Hilfsmittel dienten keinesfalls dem Tracking der Kleinen, betonen Anbieter und Anwender.
Vertrauen statt Kontrolle
Kibesuisse, der Verband Kinderbetreuung Schweiz, bezeichnet eine dauerhafte Lokalisierung von Kindern und Jugendlichen gleich wie der Datenschutzbeauftragte des Kantons Zürich als «nicht erforderlich». Kibesuisse-Sprecherin Christine Traber sagt, Kinder sollten die Möglichkeit haben, Autonomie und Verantwortung zu erlernen. «Deshalb appelliert der Verband an die Erwachsenen, den Kindern zu vertrauen und sich darauf zu konzentrieren, eine tiefe Beziehung zu ihnen aufzubauen.» Traber betont: Für das Kindeswohl seien kompetente Betreuungspersonen wesentlich wert- und sinnvoller als technische Hilfsmittel.
Die Stiftung Pro Juventute, die mit ihren Angeboten Kinder und Jugendliche unterstützt, sieht Tracking als Eingriff in die Privatsphäre eines Kindes. Sprecher Olivier Reber hält fest, die ständige Verfügbarkeit der Eltern mindere die Autonomie und das Selbstvertrauen der Kinder. Diese bräuchten Freiräume und müssten die Möglichkeit haben, selbst Erfahrungen zu sammeln, sagt Reber. In erster Linie aber benötigen Kinder das Gefühl: Meine Eltern trauen mir etwas zu.