Darum gehts
- Liebesgeschichte an der Golden Gate Bridge in analogen Zeiten
- Kassenhäuschen-Mitarbeiter verliebt sich in Autofahrerin und gibt ihr seine Nummer
- Jeden Moment kann etwas Schönes passieren
«Genug», sagte meine Freundin. Sie legte die flache Hand mit so viel Nachdruck auf die Tischplatte, dass die Gläser zitterten. Wir hatten uns, wie fast immer in den letzten Monaten, über Politik unterhalten, wobei «unterhalten» da nicht das richtige Wort ist. Wir haben uns über Politik verängstigt, betrübsinnt, entmutigt. Über unsere Ängste haben wir gesprochen, die ganz unterschiedliche Wurzeln haben, aber sich bei allen gleich anfühlen: Als lebte ein Nagetier in unseren Eingeweiden. Ein nachtaktives auch noch. «Ich hätte lieber Schmetterlinge im Bauch», sagte jemand, und das brachte dann eben meine Freundin auf die Idee, dass wir jetzt etwas anderes brauchten. Einen Gaumenreiniger sozusagen. Ein Zitronensorbet? Nein, eine schöne Geschichte.
Und sie wusste auch gleich eine: Eine Liebesgeschichte aus der Zeit, in der die Kassenhäuschen auf der Brücke noch mit Menschen besetzt waren, als man jedes Mal anhalten, die passende Anzahl zerknitterter Dollarscheine bereithalten und durchs Fenster reichen musste. Ich erinnere mich an diese Zeit: Als wir vor 25 Jahren zum ersten Mal nach San Francisco ausgewandert waren, war dieses System noch im Gebrauch. Ich weiss noch, wie romantisch mir das damals vorkam. Nicht zu Unrecht.
Caitlin, die ältere Schwester meiner Freundin, arbeitete damals auf der anderen Seite der berühmten Golden Gate Bridge. Ob sie die Schönheit dieses Wahrzeichens, dieser Touristenattraktion überhaupt noch wahrnahm, ist nicht überliefert. Wenigstens stand sie nicht im Stau, die meisten pendelten in der umgekehrten Richtung. Und so fuhr sie auch immer zügig am Kassenhäuschen vorbei, ohne den jungen Mann wahrzunehmen, der ihre Dollarscheine andächtig auseinanderfaltete, während er ihr nachschaute, wie sie im Abendnebel der Stadt verschwand. Caitlin fiel es nicht auf, dass immer derselbe junge Mann ihr Geld einsteckte, mit einem schiefen Grinsen im Gesicht, einem Kompliment auf den Lippen, manchmal einer Zigarette zwischen den Fingern, was streng verboten war.
Später würde er ihr erzählen, wie er in rasender Hektik mit der Kollegin den Platz tauschte, wenn er sie kommen sah in ihrem Gott sei Dank hier sehr seltenen alten Saab Cabriolet. Wie eine griechische Göttin erschien sie ihm manchmal, wenn sie so auf ihn zufuhr, die letzten roten Sonnenstrahlen hinter sich wie einen Flammenschweif. Dass meine Freundin nicht mehr weiss, wie der junge Mann hiess – Jeff? Jack? –, verrät das Ende der Geschichte: dass er nicht ihr Schwager geworden ist. Das macht nichts. Eine Liebe, die ein Ende hatte, kann trotzdem eine schöne Geschichte sein.
Jedenfalls: Eines Tages nahm der junge Mann seinen Mut zusammen und reichte ihr ein zusammengefaltetes Stück Papier zurück, keine Quittung, sondern seine Telefonnummer. «Und dann?», fragen wir atemlos. «Dann hat sie ihn angerufen. Und dann waren sie sechs Jahre lang zusammen.» Einen Moment lang schweigen wir gerührt. Doch dann beginnt eine Diskussion über die Gefahren des Onlinedatings, und das ist fast so deprimierend wie die Weltlage. Doch als ich das nächste Mal über die Brücke fahre, an der verwaisten Kabine vorbei, das elektronische Piepsen höre, das meine Vorauszahlung anerkennt, denke ich an Caitlin und Wie-immer-er-hiess und an die Liebe in analogen Zeiten. Und daran, dass alles jederzeit möglich ist. Jeden Moment kann etwas Schönes passieren.