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Milena Moser über die Behandlung von Dienstleistenden
Wie wir miteinander umgehen

Es kommt selten vor, dass Victor das Kochen für Gäste anderen überlässt. Doch die beiden Kellner, die an seinem Geburtstag vor unserer Tür stehen, liefern uns mehr als eine grossartige Mahlzeit. Viel mehr.
Publiziert: 22.09.2024 um 17:15 Uhr

Kurz zusammengefasst

  • Ein Charaktertest: Wie man mit Kellnern umgeht
  • San Francisco ist eine launische Stadt, über 90 Prozent der Lokale schliessen schon nach einem Jahr wieder
  • Die Stimmung an Victors Party ist für die Kellner besonders
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Auf einer Geburtstagsparty ihres Mannes hat Milena Moser erfahren, ...
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Milena MoserSchriftstellerin

Er erkennt mich, sobald ich die Tür öffne. Oder vielleicht ist es auch der Hauseingang, der voll mit Bildern und Mobiles und Scherenschnitten ist. «Hier war ich schon mal», ruft er. Er drehte sich zu seinem Kollegen um und streckt den Daumen hoch. «Alles okay, das wird ein angenehmer Gig heute!»

Ich erinnere mich auch: So oft kommt es ja nicht vor, dass ich Victor dazu überreden kann, das Kochen anderen zu überlassen. Das letzte Mal war das an unserer Hochzeitsfeier vor mehr als drei Jahren. Ich habe nicht damit gerechnet, dass dieselben Kellner noch in dem Betrieb arbeiten – es ist schon erstaunlich, dass es das Restaurant überhaupt noch gibt. San Francisco ist eine schnelllebige und launische Stadt, ein hartes Pflaster, über 90 Prozent aller Lokale schliessen schon nach einem Jahr wieder. Aber dieses hat überlebt, und Luke mit ihm.

Luke ist Musiker, erinnere ich mich. Die unregelmässigen Arbeitszeiten im Partyservice kommen ihm entgegen. Die beiden bauen die Tacobar auf, und wir unterhalten uns. Über alles Mögliche: Die Veränderung der politischen Lage, unsere persönlichen Umstände, die uns die letzten Jahre zugesetzt haben. Und wie schwer es ist, als Künstler in dieser Stadt zu überleben. Luke erzählt seinem Kollegen von Victors Musikinstrumenten. «Darf ich Dave schnell das Studio zeigen?» – «Klar. Und erinnere Victor daran, dass die Party gleich beginnt!»

Die beiden arbeiten hart, sie sind freundlich und aufmerksam. Nachdem mir Luke zum dritten Mal vorschwärmt, wie nett unsere Gäste und wie angenehm die Atmosphäre hier sind, werde ich misstrauisch. «Unter welchen Bedingungen arbeitet ihr denn sonst?», frage ich ein wenig fassungslos. Verlegen senkt Luke den Blick und murmelt etwas von «Anspruchshaltung» und «Leuten, die zu viel Geld haben». Willkommen in San Francisco. Was als Kompliment gemeint ist, bedrückt mich. Wir sind ja keine Heiligen, wir sind einfach Menschen, die andere auch als solche wahrnehmen. Das ist doch wohl das Minimum. Die Grundlage des Zusammenlebens.

Offenbar nicht. Ich teile mein Unbehagen mit einigen Freundinnen. Stellt sich heraus, dass sie alle schon gekellnert haben. (Ich zwar auch, aber nur zwei Wochen lang und so erfolglos, dass es nicht wirklich zählt.) Sie wissen, wovon Luke redet. «Cateringjobs sind einfach erniedrigend», da sind sie sich einig.

Maureen hat eine etwas andere Perspektive. Sie hat unzählige Dating-Apps abonniert und das Ausgehen mit Fremden quasi zum Freizeitsport erhoben. «Das ist für mich der ultimative Charaktertest, wie jemand mit Dienstleistenden umgeht», sagt sie. «Diese Stadt ist von Schaumschlägern und Luftibussen bevölkert, hier leben so viele in einer Fantasiewelt. Sie glauben, die Welt gehört ihnen, weil sie so-und-so-viel Geld verdienen, weil sie die-und-die App entwickelt haben.»

Was wirklich zählt, was real ist und welche Werte jemand hochhält, das erkennt sie daran, wie jemand mit anderen umgeht. «Und zwar mit allen. In teuren Restaurants versuchen zum Beispiel alle, die Sommelière mit ihrem Wissen über Weine zu beeindrucken. Okay, aber dann schnauzen sie den Busboy an, der die leeren Gläser abräumt. Dann ist es für mich gelaufen. Fertig.»

Später sehe ich, wie sie sich mit Luke unterhält. Sie hat ihr Telefon gezückt, und ich stelle mir vor, dass sie ihm gerade ihre Nummer gibt. Warum auch nicht, den ultimativen Charaktertest hat er ja bereits bestanden ...

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