Kurz zusammengefasst
- Jetlag bringt unerwartete Wachphasen und wertvolle stille Stunden
- Jetlag als Geschenk, das persönliche Zeit schenkt
- Connie (92) nennt ihre letzten Jahre intensiv und wichtig
Es ist 2.53 Uhr, und ich bin wach. Richtig wach, hellwach, so als hätte ich schon einen doppelten Espresso getrunken. Wacher, als ich normalerweise vier Stunden später bin. Vier Stunden später ist auch nicht besonders spät, das stimmt. Ich bin keine Eule, keine Langschläferin mehr, mein Schlafverhalten hat sich mit den Jahren verändert. Das ist normal. Ich kenne niemanden in meinem Alter, oder wenigstens keine Frau in meinem Alter, die eine ganze Nacht durchschläft. Woran das liegt, weiss ich auch nicht, aber es stört mich nicht. Ich habe immer schon gern heimlich nachts unter der Bettdecke gelesen. Jetzt habe ich mehr Zeit dafür.
Doch Jetlag, diese Strafe für mieses Flugverhalten, die Geissel der Weitreisenden – das kannte ich bisher nicht. Doch jetzt plötzlich holt mich meine Arroganz ein. Mit aller Gewalt. Victor reagiert leicht beleidigt, weil er mir gerade etwas erklären will, weil wir uns gerade eine Skizze anschauen oder ein Sandwich entzweischneiden, als plötzlich mein Kinn auf meine Brust sinkt.
«Ich leg mich kurz hin», sage ich, und er nickt resigniert. So hat er sich meine Rückkehr nicht vorgestellt. Ich schlafe auf dem Sofa ein oder am Tisch, im Park, in meinem Schreibhäuschen. Vor dem Fernseher oder dem Computer, mit einem Buch oder einer Zeitschrift in der Hand. Beim Musikhören, beim Essen, mitten im Gespräch. Dafür bin ich hellwach, wenn alle anderen schlafen. Ich schleiche mich aus dem Bett, ziehe einen Pulli über, schlüpfe in meine Finken und öffne die Küchentür.
Draussen ist es dunkel, der Garten ist ganz still, nicht einmal die Vögel singen. Dafür grölen ein paar Betrunkene durch die Strassen, und irgendwo geht ein Autoalarm los. Ich fühle mich wie ein Kind, das heimlich abgehauen ist.
Es ist ein Geschenk, dieser Jetlag. Natürlich nur, weil ich nicht jeden Tag zur selben Zeit funktionieren muss. Weil ich es mir leisten kann, irgendwann später in mich zusammenzusinken wie eine Marionette, deren Fäden gerissen sind. Diese Stunden, bevor der Rest der Welt erwacht, sind kostbar. Und sie gehören mir. Der Jetlag persönlich hat sie mir geschenkt.
Und ich frage mich, warum ich ihn so gefürchtet habe. Und wie viele andere, zu Unrecht verkannte, verteufelte, gefürchtete Ereignisse oder Erfahrungen es wohl gibt, die sich als unverhoffte Verbündete herausstellen könnten. Die Zwangspausen im Alltag, die Victors Krankheit auch mir aufzwingt, und wie die Zeit dann manchmal einfach stillsteht. Das Kranksein an sich, das Herausfallen aus der ständigen Hektik und Produktivität. Ich denke an meine 92-jährige Freundin Connie, die die letzten Jahre ihres Lebens als die intensivsten und wichtigsten bezeichnet. Obwohl sie sie sehr eingeschränkt und schmerzgeplagt verbringt.
Diese Grenzzustände führen uns an Orte, von denen wir nicht einmal ahnen konnten, dass es sie gibt. Sie sind nicht cool, sie sind nicht glamourös, aber sie haben ihr eigenes Geheimnis, ihren eigenen blassen, fast durchsichtigen Glanz.
Ich schaue in den dunklen Garten hinaus, der langsam heller wird. Ich erkenne die Umrisse der wild wuchernden Geranie, die keine Blume mehr ist, sondern ein Busch. Ich sehe einen weissen Schatten vorbeihuschen, eine unserer Katzen. Der Morgen graut.