Letztes Jahr gingen zwei Nobelpreise an LGBTQ-Forscher
Diskriminierung führt zu Wissensverlust

Letztes Jahr gingen zwei Nobelpreise an LGBTQ-Wissenschaftler. Unser Autor erklärt, wieso uns das interessieren muss und warum Diskriminierung zu Wissensverlust führt.
Publiziert: 08.01.2023 um 19:00 Uhr
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Um den wissenschaftlichen Fortschritt voranzutreiben und einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft zu haben, muss die Forschung noch offener und vielfältiger werden (Symbolbild).
Foto: Shutterstock
Mirko Bischoffberger

Was haben alle grossen Forschenden der Vergangenheit gemeinsam? Sie verschoben die Grenzen unseres Wissens und beschritten neue Wege. Dazu brauchte es Intelligenz und finanzielle Mittel, aber auch einen starken Willen und Mut. Denn sie mussten gegen vorherrschende Denkmuster ihrer Zeit ankämpfen. All das galt nicht nur für ihre Forschungsarbeit – sondern in vielen Fällen auch fürs Privatleben. Genauer: wenn es um ihre sexuelle Orientierung ging.

Das berühmteste Beispiel ist wohl Alan Turing, der gemeinhin als Vater des modernen Computers und der künstlichen Intelligenz gilt. Er wurde 1912 in England geboren und schloss sein Studium der Mathematik am King’s College in London ab. Als junges Genie löste er bereits die schwierigsten Probleme seiner Zeit und entwickelte im Alter von 24 Jahren die nach ihm benannte Turing-Maschine. Es handelt sich dabei um ein mathematisches Computermodell, das nach festgelegten Regeln funktioniert. Mit anderen Worten, es stellt die perfekte Abstraktion einer theoretischen Software dar, welche er bereits vor dem Bau des ersten Computers formalisierte. Später formulierte er dann den nach ihm benannten Turing-Test, mit dem man noch heute feststellt, ab wann ein Computer ein dem Menschen gleichwertiges Denkvermögen hat. Ein sehr aktuelles Thema in der aktuellen Welt der künstlichen Intelligenzen!

Alan Turing gilt als Vater der Computerwissenschaft und der künstlichen Intelligenz. Er beging mit 42 Jahren Suizid, weil er wegen seiner Homosexualität verfolgt wurde.
Foto: imago images/Historical Views

Der Mythos von Schneewittchen und Apple

Mit 40 Jahren wurde Turing wegen homosexueller Handlungen angeklagt und verurteilt. Als er nur noch die Wahl zwischen Gefängnis und chemischer Kastration hatte, akzeptierte er die Hormonbehandlung. Zwei Jahre später starb Turing. Der Legende nach biss er in einen mit Zyankali versetzten Apfel und beging Suizid.

Im gleichen King’s College in London war ein paar Jahre zuvor auch ein anderer berühmter Homosexueller tätig, John Maynard Keynes (1883–1946). Der englische Wirtschaftler gilt heute als einer der einflussreichsten Ökonomen des letzten Jahrhunderts. Er ist vor allem dafür bekannt, dass er die Makroökonomie neu erschuf und damit die Wirtschaftspolitik aller Regierungen veränderte. Keynes ging offen mit seiner Homosexualität und seinen Liebschaften um. Einige politische Gegner nutzten dies aus, um seine wissenschaftliche Arbeit anzugreifen. Ohne Erfolg. Er wurde später Direktor des King's College. Später im Leben entdeckte er seine bisexuelle Seite und verliebte sich schliesslich in die russische Ballerina Lydia Lopokova, die er heiratete.

Der englische Wirtschafter John Maynard Keynes gilt heute als einer der einflussreichsten Ökonomen des letzten Jahrhunderts. Er ging offen mit seiner Homosexualität und seinen Liebschaften um.
Foto: Bettmann Archive

Diesjährige Nobelpreise

Der aktuelle Nobelpreisträger für Medizin, Svante Pääbo (67), wurde ausgezeichnet für die Nutzung von DNA-Sequenzen, um die Vergangenheit der Menschheit zu verstehen. So fand er zum Beispiel heraus, dass wir uns mit den Neandertalern vermehrten, bevor sie ausstarben, und dass viele von uns noch heute Neandertaler-Gene in sich tragen. Einige davon machen uns sogar anfällig für schwere Covid-19-Erkrankungen. Aber er entdeckte auch neue, unbekannte Vorfahren, die Denisovaner. In seinem Buch «Neanderthal Man: in Search of Lost Genomes» erklärt Pääbo, dass er sich als bisexuell sieht und er lange annahm, homosexuell zu sein.

Svante Pääbo, Nobelpreisträger für Medizin 2022, fand heraus, dass wir uns Menschen uns mit den Neandertalern vermehrten und heute noch ihre Gene tragen. Gewisse davon machen uns anfällig für Covid-19.
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Ähnliches gilt für eine weitere Nobelpreisträgerin von 2022, Carolyn Bertozzi (56). Sie erhielt den Nobelpreis für Chemie für die Entwicklung von bioorthogonalen Reaktionen. Das sind chemische Prozesse, die in lebenden Zellen durchgeführt werden können, ohne das System zu stören. Damit eröffnen sich riesige Wege für die Arzneimittelentwicklung. Bertozzi ist offen homosexuell und in der Wissenschaftswelt ein Vorbild für viele Studierende und Kollegen.

Carolyn Bertozzi erhielt den Nobelpreis für Chemie für die Entwicklung von bioorthogonalen Reaktionen. Sie ist offen homosexuell und in der Wissenschaftswelt ein Vorbild für viele Studierende und Kollegen.
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Pionierin in Transgender und Computerchips

Lynn Conway (85) ist eine US-amerikanische Wissenschaftlerin, die bei IBM arbeitete und dort in den frühen 1980er-Jahren eine Revolution in der Chipentwicklung und -produktion einleitete. Conway hat sich nach eigenen Angaben nie wirklich als Mann gefühlt. Sie konnte ihr Geschlecht aber erst angleichen, als die medizinischen Möglichkeiten dazu vorhanden waren. Zuvor war sie mit einer Frau verheiratet und hatte zwei Kinder. Tragischerweise wurde ihr nach der Operation der Zugang zu ihren Kindern anfänglich verwehrt und sie wurde von IBM gefeuert (die offizielle Entschuldigung von IBM kam erst 2020).

Lynn Conway lebte als Mann und revolutionierte in den 1980er-Jahren die Chipentwicklung bei IBM. Nach ihrer Geschlechtsangleichung wurde sie gefeuert.
Foto: Joseph Xu

Natürlich gibt es noch viele weitere grosse Geister, die mit ihrer Sexualität von den Normen ihrer Zeit abwichen, wie das berühmte Philosophen-Duo Jean-Paul Sartre (1905–1980) und Simone de Beauvoir (1908–1986), oder auch Ludwig Wittgenstein (1889–1951). Und sogar eine heterosexuelle Frau mit mehreren Liebhabern zu sein, war lange ein Tabu! Das grösste Genie in diesem Sinne war wohl Emilie du Châtelet (1706–1749). Die französische Physikerin, Mathematikerin und Philosophin arbeitete zu Optik, Mechanik und übersetzte die Werke von Isaac Newton (1643–1727) ins Französische. Sie war die erste Frau, deren wissenschaftliche Arbeit von der französischen Akademie veröffentlicht wurde. Privat liebte sie immer wieder den französischen Schriftsteller Voltaire (1694–1778), dem sie ein Leben lang verbunden blieb.

Neue Ansätze, neue Einflüsse

Meine Botschaft ist klar: Um den wissenschaftlichen Fortschritt voranzutreiben und einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft zu haben, muss die Forschung noch offener und vielfältiger werden. Die Geschichte zeigt deutlich, dass die innovativste und bahnbrechende Forschung oft das Ergebnis von mutigem, unkonventionellem Denken ist. Dies erfordert ein Umfeld, das Kreativität fördert und unterschiedliche Perspektiven zulässt. Denn nur so kommt man zu neuen Ansätzen.

Die Wissenschaft beruht nämlich auf Problemlösung und Zusammenarbeit. Eine Vielfalt von Ansätzen führt also mit grösserer Wahrscheinlichkeit zu neuen Erkenntnissen. Es wird deshalb ausschlaggebend sein, Forschende aller sexueller und kultureller Orientierungen in die wissenschaftliche Forschung einzubeziehen.

Diskriminierung behindert den Fortschritt nur und schränkt damit unser kollektives Wissen ein. Man stelle sich vor, wie die Welt heute ohne die Beiträge von Menschen wie Alan Turing aussehen würde. Diskriminierung führt bloss zu Verlust an Wissen.

Mirko Bischofberger ist Molekularbiologe, Filmemacher und ehemaliger Kommunikationsleiter der EPFL.

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