Kriminologin Claudia Christen im Interview
«Opfer haben Fragen, die nur der Täter beantworten kann»

Die Kriminologin Claudia Christen ist Präsidentin des Vereins «Swiss RJ Forum». Ihr Ziel ist es, Opfer und Täter von Verbrechen zusammenzubringen und damit den Grundstein für ein Leben nach der Tat zu legen.
Publiziert: 11.06.2019 um 14:01 Uhr
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Aktualisiert: 11.06.2019 um 15:39 Uhr
Claudia Christen ist selbst Opfer eines Gewaltverbrechens und setzt sich heute für den Dialog zwischen Opfern und Tätern ein.
Foto: René Ruis
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Beat Glogger @higgsmag

BLICK: Frau Christen, in der Restaurativen Justiz bringen Sie Opfer teils schwerster Straftaten mit den Tätern zusammen. Spüren Sie selbst nie Abscheu gegenüber den Tätern?
Claudia Christen:
Nein. Ich arbeite mit Tätern zusammen, die an dem Prozess freiwillig teilnehmen. Es handelt sich also um eine spezielle Gruppe, die bereit ist, über ihre Taten zu sprechen. Ich versuche, die Menschen zu sehen und nicht nur die Tat.

Der Begriff Restaurative Justiz kommt von «wiederherstellen». Was wollen sie nach einem Mord oder einer Vergewaltigung wiederherstellen?
Nach einem schweren Verbrechen wird ein Leben – dasjenige des Opfers oder seiner Angehörigen und dasjenige des Täters – nie mehr so sein wie davor. Viele Dinge können nicht in den Originalzustand versetzt werden, sondern das Leben bleibt geprägt von der Tat. Deshalb passt der Begriff Restauration sehr gut. Grundsätzlich geht es insbesondere für Opfer um ein Wiederherstellen ihrer Würde und des Respektes.

Was bezweckt die Restaurative Justiz bei Opfern und Tätern genau?
Opfer sollen die Chance erhalten, das Erlebte zu verarbeiten und in ihr Leben zu integrieren, um in die Zukunft blicken zu können. Bei den Tätern geht es oft um ein Aufarbeiten. Wie konnte es so weit kommen? Oft werden sich die Täter erst bei der Konfrontation mit dem Opfer bewusst, was sie wirklich angerichtet haben. Dieses Bewusstwerden unterstützt die Abkehr von der Kriminalität.

Das tut auch der normale Strafvollzug, der auf die Wiedereingliederung der Täter ausgerichtet ist. Wie unterscheidet sich die Restaurative Justiz davon?Durch die direkte Konfrontation. Den Opfern oder ihren Angehörigen gegenübertreten zu müssen, ist für die Täter schwierig. So etwas erleben sie in einer rein psychiatrischen Therapie nicht. Zum Beispiel bei Raubüberfällen sagen die Täter vor der Konfrontation oft: Niemand wurde verletzt, das Geld gehörte nur der Bank – es ist doch eigentlich nichts passiert. Erst nach der Konfrontation mit einem Opfer des Überfalls realisieren sie, dass Menschen nach einem solchen Erlebnis ein Leben lang Angst haben, etwa vor jeder Person, die dunkel angezogen ist oder eine Kapuze trägt.

Traumata zu überwinden, ist aber auch Aufgabe der psychologischen Opferhilfe. Was macht die Konfrontation anders?
Opfer haben oft Fragen, die ihnen nur der Täter selbst beantworten kann.

Was fragt jemand, der vergewaltigt wurde, seinen Täter?
Warum ich? Warum ist mir das passiert? Habe ich etwas falsch gemacht? Hätte ich etwas anders machen können? Diese Fragen bleiben meist ungeklärt.

Werden solche Fragen nicht auch im Gerichtsprozess geklärt, der zur Verurteilung geführt hat?
Oft nicht oder nur ansatzweise. Zudem wollen viele Opfer nicht am Gerichtsprozess dabei sein, um nicht noch einmal traumatisiert zu werden. Ausserdem ist die Kommunikation mit dem Täter während des Strafprozesses oft nicht wirklich möglich. Und die Opfer oder ihre Angehörigen kommen oftmals kaum weiter in ihrem Leben, bevor sie nicht Antworten darauf finden.

Wie läuft ein restaurativer Prozess typischerweise ab?Zuerst müssen beide Parteien bereit sein für den Dialog. Und wir müssen uns aus professioneller Sicht sicher sein, dass der restaurative Prozess hilfreich für das Opfer sein wird. Und auch für den Täter.

Sie sprechen vorher also mit beiden Seiten?
Unbedingt. Ich stelle sicher, dass Opfer und Täter bereit für den Prozess sind. Auch bei der Konfrontation bin ich als Moderatorin dabei. Je nachdem muss das auch nicht in einem Raum stattfinden. Manchmal ist es besser per Brief oder per Videokonferenz.

Wie werden Angehörige in den Prozess einbezogen?Das ist von Fall zu Fall verschieden. Manchmal ist das Opfer tot, und der restaurative Prozess findet zwischen Täter und Angehörigen statt. Und manchmal benötigen auch die Angehörigen des Täters Hilfe. Zum Beispiel, nachdem bei einer Familie plötzlich die Polizei vor der Tür stand, um den Vater für zehn Jahre Haft abzuholen – und Kinder und Frau wussten nichts davon. So ein Erlebnis verändert das Leben der ganzen Familie.

Zu welcher Einsicht kommt ein Täter in einem restaurativen Prozess?
Er sieht, dass seine Tat Schaden angerichtet hat. Einmal betreute ich einen jungen Täter, der bereits seit zwölf Jahren kriminell war. Er hatte nie das Gefühl, Opfer zu hinterlassen, weil er nur im Milieu agiert hatte. Als er dann aber Opfern von Raubüberfällen gegenübersass und ihre Geschichten hörte, brach seine Welt zusammen wie ein Kartenhaus.

Der Prozess ist freiwillig. Die richtig harten, uneinsichtigen Verbrecher erreichen Sie damit also nicht.
Die Schwere des Verbrechens hat nichts damit zu tun, wie einsichtig ein Täter ist. Ich habe schon mit Schwerstverbrechern zusammengearbeitet, mit Mehrfachmördern, Mördern und solchen, die schwere Körperverletzung zu verantworten haben. Wenn ein solcher Täter die Bereitschaft hat, sich auf den Prozess der Restaurativen Justiz einzulassen, kann wirklich eine Veränderung passieren. Nicht nur kurzfristige Einsicht, sondern eine langfristige Veränderung.

Wie viele restaurative Prozesse haben Sie in der Schweiz bereits durchgeführt?
Gruppenprozesse haben wir in der Schweiz bisher drei durchgeführt. Einen direkten Dialog habe ich nach einem schweren Verbrechen gemacht, und einen weiteren nach einem Delikt im familiären Umfeld. Daneben sind noch ein paar weitere Prozesse in Vorbereitung.

Das ist noch nicht gerade viel.
Die Restaurative Justiz steckt in der Schweiz noch in den Kinderschuhen. Wir haben mit dem Forum für Restaurative Justiz erst 2017 begonnen.

Sie haben die Restaurative Justiz auch schon als «traditionelle Justiz» bezeichnet. Wenn ich an die Geschichte der Justiz in Europa denke, kommen mir eher Knochenbrechen, Teeren und Federn oder der Pranger in den Sinn.
Die Tradition der Restaurativen Justiz ist jahrtausendealt. Ganze Dörfer sassen nach einer Straftat zusammen und jeder erzählte, wie er es erlebt hatte. Dann entschied man zusammen, wie man mit der Tat umgeht. Ich habe eine Forschungsarbeit gemacht, in der ich gemeinschaftliche Ansätze im Umgang mit Straftaten in der Geschichte Nordamerikas, Afrikas und Asien festgestellt habe. Natürlich muss man unterscheiden: Nur weil ein Prozess gemeinschaftlich ist, bedeutet es noch nicht automatisch, dass er auch restaurativ ist. Oft geht auch ein gemeinschaftlicher Prozess mit Strafe aus.

Gibt es Belege dafür, dass die Restaurative Justiz wirklich funktioniert?
In Kanada wurde die Restaurative Justiz 1974 eingeführt. Seither wurden weltweit viele Studien durchgeführt. Klar ist, dass die Rückfallrate kleiner ist bei Tätern, die durch den restaurativen Prozess gingen und dass die Rückfallrate bei schweren Straftaten stärker reduziert wird als bei kleinen Verbrechen. Bei den Opfern zeigen Studien, dass die Restaurative Justiz hilft, posttraumatische Belastungsstörungen zu mildern oder sogar ganz zum Verschwinden zu bringen.

Die Restaurative Justiz redet von Versöhnung und Vergebung. Das sind christliche Werte. Sind Sie religiös motiviert?
Ich sehe das als menschliche nicht explizit nur christliche Werte. Die Konzepte Versöhnung und Vergebung existieren in allen Religionen der Welt. Auf solchen Werten baut die Restaurative Justiz auf.
 
Stimmen aus dem etablierten Strafvollzug bezeichnen Sie als Laiin, die sich im Gegensatz zu einem Gefängnispsychiater nicht auskenne mit der Psyche von Straftätern.
Es gibt Gefängnisdirektoren und -psychiater, die sich für die Restaurative Justiz einsetzen, und solche, die wenig davon halten. Für uns sind hohe professionelle Standards das A und O. Nur so können wir beispielsweise verhindern, dass ein Opfer durch den Prozess erneut traumatisiert wird.

Kritisiert wird ja gerade, dass Sie eine solche erneute Traumatisierung als Nicht-Psychiaterin gar nicht erkennen könnten.
Das stimmt, ich bin keine Psychiaterin. Aber eine Traumatisierung kann ich erkennen, da ich auf Traumaarbeit ausgebildet wurde.

Welches Ziel setzen Sie sich für die Restaurative Justiz in der Schweiz?
Wir wollen genügend Moderatoren und Moderatorinnen ausbilden, sodass für jedes Opfer, jeden Angehörigen und jeden Täter, das oder der einen restaurativen Prozess wünscht, jemand zur Verfügung steht, der dafür speziell ausgebildet ist.

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