Demnach hat die berühmte Bronzestatue, die das Symbol der italienischen Hafenstadt ist, eine abenteuerliche Reise hinter sich. In ihr spielten möglicherweise der Vater von Marco Polo und der Hof des legendären mongolischen Herrschers Kublai Khan eine Rolle.
Die geflügelte Löwenstatue ist auf einer Säule zwischen Dogenpalast, Markusdom und Lagune weithin sichtbar und wird jährlich von Millionen Touristen bewundert und fotografiert. Die Geschichte der Statue ist bis heute ein Mysterium.
Es gibt allerdings klare Hinweise, dass sie nicht schon immer auf dem Markusplatz ihren Platz hatte. Im Laufe der Jahrhunderte wurden dem Löwen die Ohren gekürzt und seine Flügel verändert. Früher hatte der Löwe sogar Hörner, die dann irgendwann abgeschnitten wurden.
Das einzige historische Dokument, in dem der Löwe erwähnt wird, ist den Studienautoren zufolge auf den 14. Mai 1293 datiert. Damals war die Skulptur bereits beschädigt und reparaturbedürftig. Die Granitsäule, auf welcher der Löwe thront, gelangte wahrscheinlich im Zuge von Plünderungen im antiken Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, kurz vor 1261 nach Venedig, wie die Studienautoren darlegen.
«Wir wissen nicht, wann die Skulptur in Venedig eintraf, wo sie überarbeitet wurde, wer das gemacht hat oder wann sie auf der Säule platziert wurde, wo sie heute noch zu sehen ist», erklärte der an der Studie beteiligte Archäologe Massimo Vidale von der Universität Padua. Allerdings konnten er und seine Kollegen Blei-Isotope analysieren, die während einer Restaurierung der Statue im Jahr 1990 gesammelt worden waren.
Das für die Statue verwendete Kupfererz wurde demnach im Becken des Jangtse-Flusses in China gefördert. Dies deutet auf eine Herkunft der Statue viel östlicher als bislang angenommen hin. Bisherige Forschungshypothesen besagten, dass der Löwe im 12. Jahrhundert direkt in Venedig gegossen oder während der vorchristlichen hellenistischen Epoche irgendwo im heutigen Anatolien oder Syrien hergestellt worden sei.
Nicht nur dies stellen Vidale und seine Kollegen jetzt in Frage. Nach ihrer Auffassung handelt es sich womöglich gar nicht um einen Löwen. Die Skulptur ähnele vielmehr einem als «Zhenmushou» bekannten Grabwächter-Wesen aus der chinesischen Tang-Dynastie (618 bis 907 nach Christus). «Diese hybriden Kreaturen vereinen löwenartige Schnauzen, flammende Mähnen, Hörner und an den Schultern sitzende erhobene Flügel, spitze aufrechte Ohren und manchmal vermenschlichte Gesichtszüge», heisst es in der Studie.
Die heute noch existierenden Zhenmushou-Figuren seien zwar aus anderem Material gefertigt, sähen dem Löwen aus Venedig aber sehr ähnlich, insbesondere seine «knollige Nase», schreiben die Autoren. Sie halten es für möglich, dass die Statue durch Niccolò and Maffeo Polo, dem Vater und Onkel des berühmten venezianischen Seefahrer Marco Polo, in die Lagunenstadt gelangte. Sie waren 1265 als Handelsreisende am Hof von Kublai Khan in Khanbalik, dem heutigen Peking, gewesen.
Wenige Jahre zuvor hatte die Republik Venedig den Löwen als ihr Symbol gewählt. Daher hätten die Brüder Polo vielleicht «die irgendwie dreiste Idee gehabt, die Skulptur in einen echt aussehenden geflügelten Löwen zu verwandeln», heisst es in der Studie. Womöglich hätten sie die Skulptur dann über die Seidenstrasse nach Venedig gebracht. Es wäre nicht die einzige Reise der Figur. Nach dem Sieg von Napoleon Bonaparte über die Republik Venedig brachte er die Löwen-Statur 1797 nach Paris. Die in mehrere Teile zerbrochene Skulptur kehrte erst 1815 nach Venedig zurück.