Darum gehts
Ein Kindergarten ohne Lego, Puppen oder Bauklötze? Für viele Kinder nicht vorstellbar – und für Eltern zunächst auch nicht. Doch genau das ist der Sinn des Konzepts «Spielzeugfreier Kindergarten».
Während drei Monaten werden alle klassischen Spielsachen aus dem Gruppenraum verbannt – stattdessen stehen Decken, Kartons, Naturmaterialien und insbesondere viel Zeit und Raum für freies Denken zur Verfügung.
Was passiert, wenn Kinder plötzlich selbst entscheiden müssen, womit sie spielen? Welche sozialen Prozesse entstehen – und warum ist Langeweile dabei nicht der Feind, sondern ein wichtiger Motor für Entwicklung? Susanne Wasserfallen von Suchtprävention Aargau begleitet Kindergartenlehrpersonen bei der Umsetzung dieses Konzepts und spricht im Interview über überraschende Aha-Momente, Elternängste und die Kraft der eigenen Fantasie.
Was versteht man unter einem spielzeugfreien Kindergarten?
Susanne Wasserfallen: Im Prinzip geht es darum, alle Spielsachen und Utensilien, die von Kindern in der Regel immer gleich genutzt werden, in die Ferien zu schicken. Dazu gehören Sachen wie Puppen, Autos, Bauernhäuser, aber auch Lego. Obwohl Kinder mit Lego ganz viel Kreatives machen können, bauen sie meist dasselbe. Wenn all diese Sachen in den Ferien weilen, entstehen im Kindergarten viel Raum und Zeit zum Selberwirken, Forschen und Lernen.
Was ist das Hauptziel eines spielzeugfreien Kindergartens?
Primär geht es darum, die von der WHO definierten Lebenskompetenzen zu stärken. Dazu gehören Kommunikationsfähigkeit, Empathie, kritisches Denken sowie das Lösen von Problemen und Konflikten.
Wie verändert sich das Verhalten der Kinder, wenn das klassische Spielzeug wegfällt?
Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt Kinder, oft auch solche, von denen man es gar nicht erwartet hat, die total aufblühen und vor Ideen nur so sprühen. Natürlich trifft man auch auf Kindergärtler, die mehr Unterstützung und Begleitung brauchen. Es kann auch passieren, dass es Kindern langweilig wird – das ist nichts Schlechtes. Aus Langeweile entstehen oft die kreativsten Ideen.
Was entgegnen Sie Eltern, die befürchten, ihre Kinder könnten sich langweilen oder unterfordert sein?
Hier ist es wichtig, Rückfragen zu stellen. Was ist deren Sorge? Im Austausch kann man Eltern darin bestärken, ihren Kindern etwas zuzutrauen, und ihnen bewusst machen, dass Sorgen oft mehr Eltern- als Kindersache sind. Es zahlt sich ebenfalls aus, die Rolle der Kindergartenlehrperson zu erklären. Kinder werden ja nicht komplett sich selbst überlassen.
Wie genau sieht denn die Aufgabe einer Kindergartenlehrperson während des spielzeugfreien Kindergartens aus?
Für sie sind die drei Monate sehr herausfordernd und intensiv. Ein spielzeugfreier Kindergarten braucht viel Präsenz und Aufmerksamkeit der Lehrperson. Obwohl diese sich möglichst zurückziehen und im Hintergrund aufhalten sollte, muss sie genau beobachten und erkennen, wann sie wo eingreifen und handeln soll.
Wie sieht ein typischer Morgen in einem spielzeugfreien Kindergarten aus?
Sehr frei! Die Kinder kommen und dürfen direkt ins Freispiel. Nicht einmal die Znünipause ist geführt oder vorgegeben. Die Kinder dürfen essen, wann und wo sie wollen. Das Einzige, das von der Kindergartenlehrperson geführt wird, ist die tägliche Abschlussrunde, in der mit den Kindern über die gemachten Erfahrungen, die aktuelle Stimmungs- und Gefühlslage reflektiert wird.
Gibt es Kinder, denen dieses Konzept eher schadet als nützt?
Spannenderweise beobachten wir, dass vor allem junge Kinder im spielzeugfreien Kindergarten aufblühen. Es gibt Kinder, für die die drei Monate besonders herausfordernd sind. Das können zum Beispiel neurodivergente Kinder sein. Da lohnt es sich, im Vorfeld Massnahmen zu treffen und im Betreuungsteam sowie mit den Eltern zu überlegen, was für eine Unterstützung diese Kinder brauchen. Ich würde ihnen aber unbedingt die Chance geben, eigene Erfahrungen zu sammeln. Wenn sie Unterstützung brauchen, ist jemand da.
Noch ist der spielzeugfreie Kindergarten kein fester Bestandteil des Lehrplans 21. Würden Sie sich wünschen, dass er schweizweit obligatorisch wird?
Da bin ich zwiegespalten. Ich freue mich sehr darüber, dass schon einige Kantone wie Aargau, Zürich, Luzern und Solothurn vermehrt auf den spielzeugfreien Kindergarten setzen. Ich halte es aber für wichtig, dass die Kindergartenlehrperson aus eigenen Stücken entscheiden darf, ob sie das will. Der Erfolg des Projekts steht und fällt nämlich mit der Lehrperson. Wenn diese aus eigener Freude und Motivation zusammen mit den Kindern den spielzeugfreien Kindergarten bestreitet, profitieren die Kindergärtler am besten davon.
Wie reagieren die Kinder, wenn die Spielsachen nach drei Monaten «aus den Ferien» geholt werden?
Die einen finden das natürlich total lässig, andere sind der Meinung, dass die Spielsachen gar nicht mehr nötig sind.