Serie «Das Erbe der 68er» – Antiautoritäre Erziehung
Kinder brauchen keine Erziehung

Fünf Jahrzehnte nach dem magischen Jahr 1968 stellt sich die Frage: Was bleibt von der Studentenrevolte, die damals Europa erschüttert hat? BLICK gibt zwölf Antworten. Heute Teil 5: Antiautoritäre Erziehung.
Publiziert: 01.09.2018 um 17:35 Uhr
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Aktualisiert: 20.06.2019 um 14:35 Uhr
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Die Kinderläden entwickelten sich zur Avantgarde der antiautoritären Erziehung.
Foto: Agentur Focus
René Lüchinger

«Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.» Diesen Satz schrieb der deutsche Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno 1966 in ein Manuskript, zunächst fürs Radio, das später als Büchlein mit dem Titel «Erziehung nach Auschwitz» erschien.

Im gleichen Jahr entwickelte der linksradikale Politaktivist und spätere Kommunarde Dieter Kunzelmann Ideen, wie die «Kleinfamilie als kleinste Zelle des Staates» zerschlagen werden könne, pries «die Kommune als Gegeninstitution der Familie», als «Alternative zur Trinität von Vater-Mutter-Kind». Der Kommune-Ideologe sah in der Familie die Brutstätte des autoritären Charakters und des Faschismus.

Die Männer theoretisieren …

Für Studentenführer Rudi Dutschke wurzelte der Faschismus in der autoritären Persönlichkeit, und diese geht für ihn auf die Erziehung zurück. Das bedeute: Die Erziehung müsse verändert werden. In der Folge brachte Dutschke das Begriffspaar «Autorität/Antiautorität» in die deutsche Debatte ein.

Es waren also Männer, die die theoretische Debatte um Erziehung und Antiautorität angeschoben haben – dies in einer Zeit, als in den Schulen Lehrer noch ein Recht zur körperlichen Züchtigung besassen und davon auch Gebrauch machten.

… die Frauen schauen zu den Kindern

Junge Mütter hatten derweil ganz praktische Alltagsprobleme zu lösen. Das öffentliche System der Kleinkindbetreuung war in den 1960er-Jahren schlecht ausgebaut, zementiert war das tradierte Rollenmodell, nach dem die Mütter und nicht die meist theoretisierenden Männer für die Kindererziehung zuständig waren.

Als Einrichtungen zur Selbsthilfe entstanden in Berlin und Frankfurt sogenannte «Kinderläden», die sich zur Avantgarde der antiautoritären Erziehung entwickelten. «Ziel der Erziehung in den Kinderläden war – vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus –, Kinder zu kritikfähigen, selbstbestimmten und mündigen Menschen zu erziehen, die zum Widerstand fähig wären», urteilt die Hildesheimer Erziehungswissenschaftlerin Sophia Baader.

«Ekelerregend und pornografisch»

Kritik- und Glücksfähigkeit des Kindes sollten im Vordergrund stehen, so wie das der britische Pädagoge und Freigeist Alexander Sutherland Neill in seinem 1965 auf Deutsch erschienenen Bestseller «Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill» propagiert hatte.

Als der deutsche Filmemacher Gerhard Bott diese «Erziehung zum Ungehorsam» – so der Sendetitel – 1969 am TV ausstrahlen liess, war das Publikum aus dem Häuschen. Da tobten Kinder nackt in Haus und Garten. Da gab es Kinder zu sehen, die ihre Aufsichtspersonen wüst beschimpften, um kurz danach wieder liebevoll in ihren Armen zu liegen. «Anarchistisch, ekelerregend und pornografisch» sei das, monierten die Entrüsteten. Der Kinderschutzbund liess verlauten, die antiautoritäre Erziehung führe zur «systematischen Bolschewisierung» der Kinder und zu «sexueller Libertinage».

Neues wurde möglich

Heute lässt sich festhalten: Die antiautoritäre Erziehungsbewegung der 1960er-Jahre hat trotz einiger Irrungen zementierte Hierarchien zwischen Erwachsenen, Kindern und Teenagern aufgeweicht und neue Erziehungsmodelle ermöglicht. Und auch die Wissenschaftlerin Baader gibt Entwarnung: Nach deren Studien, schreibt der «Spiegel», «sind aus den Kinderläden durchweg normale Erwachsene hervorgegangen».

//Teil 5 Box // «Angst macht dumm»

In der Schweiz gründet die Frauenbefreiungsbewegung 1970 einen Kindergartenverein, der die Theorie von der Erziehung ohne Zwang theoretisch und praktisch prüfen will. In einem Schwarzweissfilm aus jener Zeit sind Kinder zu sehen, die ihren Aggressionen gegen Spielsachen oder Möbel oder auch gegen andere Kinder freien Lauf lassen.

Es herrscht ziemliches Chaos in einem karg eingerichteten Raum. Aus dem Off erklärt ein Sprecher: «Kindliche Aggressionen dürfen nicht unterdrückt werden. Verbote und Strafen hemmen die Entwicklung der Kinder zu kritischen Menschen. Disziplin führt zu Angst, und Angst macht dumm.»

In der Schweiz gründet die Frauenbefreiungsbewegung 1970 einen Kindergartenverein, der die Theorie von der Erziehung ohne Zwang theoretisch und praktisch prüfen will. In einem Schwarzweissfilm aus jener Zeit sind Kinder zu sehen, die ihren Aggressionen gegen Spielsachen oder Möbel oder auch gegen andere Kinder freien Lauf lassen.

Es herrscht ziemliches Chaos in einem karg eingerichteten Raum. Aus dem Off erklärt ein Sprecher: «Kindliche Aggressionen dürfen nicht unterdrückt werden. Verbote und Strafen hemmen die Entwicklung der Kinder zu kritischen Menschen. Disziplin führt zu Angst, und Angst macht dumm.»

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