Darum gehts
Blick: Herr Carrel, als junger Mann haben Sie sich bei der Studienwahl gegen die Posaune und fürs Herz entschieden. Was klingt denn schöner?
Thierry Carrel: (Lacht) Die regelmässigen Schläge eines gesunden Herzens, wie ein Metronom, sind kaum zu übertreffen. Ausserdem besitzen die Klänge gewisser Herzfehler, wie beispielsweise der Ton einer Mitralklappeninsuffizienz, äusserst poetische Bezeichnungen.
Wie heisst dieser denn?
Möwenschrei. Ein hochfrequentes leises Geräusch.
Bleiben wir poetisch. Dichter hielten das Herz für den Ort all unserer Emotionen. Warum messen wir diesem Organ so viel Gefühl bei?
Weil es unsere emotionale Verfassung spürbar wiedergibt. Angst, Aufregung, Verliebtheit, Anstrengung – und das Herz schlägt uns bis in den Hals. Denn damit unser Körper in diesen Situationen nicht versagt, muss mehr Blut in den Kreislauf gepumpt werden. Und diese verstärkte Herzarbeit nehmen wir wahr.
Die Herzchirurgie fand ihre Anfänge vor der Kardiologie. Erste Operationen am offenen Herzen wurden gar ohne Herz-Lungen-Maschinen durchgeführt. Man verpflanzte Herzen, ohne über Abstossung und Immunlage Bescheid zu wissen. Die Pioniere Ihrer Zunft gingen enorme Risiken ein.
Das stimmt. Ethisch war das kritisierbar. Doch es gab in der Anfangszeit keine Alternative, und die Patienten hatten ohne Behandlung keine Überlebenschance. Gleichzeitig trieben diese Chirurgen die Industrie an, die nötigen Apparaturen zu entwickeln. Und heute verfügen wir über Geräte, die es uns erlauben, mit beinahe null Risiko relativ komplexe Eingriffe am Herzen vorzunehmen.
Thierry Carrel (65) gilt als der bekannteste Herzchirurg der Schweiz. Mit rund 12'000 Operationen in den vergangenen 40 Jahren, zahlreichen Publikationen und Kongressauftritten sowie seiner Stiftung für das Kinderherz Corelina prägt er die Herz-Medizin im Land. Er operiert heute vor allem am Universitätsspital in Basel und ist Gemeinderat in Vitznau LU am Vierwaldstättersee.
Carrel ist mit SRF-Moderatorin Sabine Dahinden (57) verheiratet und hatte eine Tochter aus erster Ehe.
Thierry Carrel (65) gilt als der bekannteste Herzchirurg der Schweiz. Mit rund 12'000 Operationen in den vergangenen 40 Jahren, zahlreichen Publikationen und Kongressauftritten sowie seiner Stiftung für das Kinderherz Corelina prägt er die Herz-Medizin im Land. Er operiert heute vor allem am Universitätsspital in Basel und ist Gemeinderat in Vitznau LU am Vierwaldstättersee.
Carrel ist mit SRF-Moderatorin Sabine Dahinden (57) verheiratet und hatte eine Tochter aus erster Ehe.
Wenn die Medizin heute so fortgeschritten ist, warum sollten wir unserem Herzen trotzdem Sorge tragen?
Auch die beste Medizin ist noch keine valable Begründung dafür, die beeinflussbaren Risikofaktoren ausser Acht zu lassen. Wenn jemand viel raucht, übergewichtig ist, sich zu wenig bewegt, hohes Cholesterin hat, empfehlen wir auf jeden Fall, das zu korrigieren. Daraus können sich weitere Risikofaktoren wie Diabetes entwickeln. Und nur wer diese Faktoren im Griff hat, lebt statistisch gesehen länger ohne Herzprobleme.
Wie viel länger?
Die Statistik spricht von zehn Jahren, was durchaus vorstellbar ist.
Schlank, gesunde Ernährung, sportlich – und trotzdem ein Infarkt mit 50. Warum?
Das ist das Geheimnis des Lebens. Leider sind ein gesunder Lebensstil und eine gute Ernährung noch keine Garantie für ein Leben ohne Herzkrankheiten. Familiäre Veranlagung, genetische Faktoren, die zu einer frühzeitigen Alterung führen: Die Ursachen sind nicht klar eruierbar. Unsere Gefässe, wie auch die Herzklappen, können altern wie unsere Haut. Es gibt 80-Jährige, die kaum Falten im Gesicht haben, andere nicht. Ganz offensichtlich laufen innerlich ähnliche Prozesse ab.
Geht es um Herzvorsorge, ist neu oft von Lipoproteinen die Rede. Sind sie die neuen stillen Saboteure?
Früher fokussierte man vor allem auf den Cholesterin-Wert. Bei Lipoproteinen handelt es sich um komplex aufgebaute Stoffe im Blut, die aus Fett und Eiweiss bestehen. Sie transportieren unter anderem auch Cholesterin und Phospholipiden durch den Blutkreislauf. In dieser Funktion können sie Einfluss auf Ablagerungen haben, die langfristig zu einer Minderdurchblutung führen und somit Hirnschlag, Herzinfarkt sowie andere Gefässkrankheiten begünstigen.
Diesen Wert bestimmen zu lassen, lohnt sich also?
Unbedingt. Mit Medikamenten kann man sie auch in den Griff bekommen.
Wer ist denn nun der grösste Feind des Herzens?
Eine allgemeingültige Rangierung gibt es nicht. Cholesterin, Lipoproteine, Zucker und Nikotin liegen vermutlich aufgrund ihrer Auswirkungen vor Alkohol. Es gibt gar Theorien, die besagen, dass Alkohol, vor allem Rotwein, die Ablagerung von Schadstoffen wie Cholesterin dank antioxydativer Wirkung der Polyphenole verlangsamt. Alkohol kann aber zu Herzrhythmusstörungen führen. Doch wie bei allem kommt es aufs Mass an und auf die individuelle Empfindlichkeit jedes Einzelnen. Patienten sind diesbezüglich Unikate, wie Edelsteine.
Obwohl wir um vorbeugende Massnahmen wissen und über moderne Medizin verfügen – Herz-Kreislauf-Erkrankungen zählen zu den häufigsten Todesursachen in der Schweiz.
Pragmatisch gesprochen, müssen wir an einer Krankheit oder an Altersschwäche sterben. Gerade eine so zarte Struktur wie eine Herzklappe, die bei einem Neugeborenen noch beinahe durchsichtig ist, wird über die Jahre massiv beansprucht. In einem durchschnittlichen Leben geht sie drei Milliarden Mal auf und zu. Das tut sie meist einmal pro Sekunde. Es überrascht nicht, dass auch sie sich wie ein Knie oder eine Hüfte im Lauf der Zeit abnützt und kaputtgehen kann. Nur ist die Konsequenz eine andere.
Brustschmerzen
Ein Druck oder dumpfer Schmerz in der linken Brusthälfte, der in den linken Arm oder in den Hals ausstrahlen kann. Meist taucht er zuerst bei grösseren Anstrengungen auf – im Endstadium gar beim Zähneputzen oder in Ruhe.
Rhythmusstörungen
Sie zeigen sich als unregelmässiger Puls oder eine Art Unruhe. Oft spürbar beim Zubettgehen. Das Vorhofflimmern zum Beispiel eine häufige Rhythmusstörung, die unbehandelt zu einem Hirnschlag durch Blutgerinnsel (Embolie) führen kann.
Atemnot
Wer wegen Kurzatmigkeit nicht mehr problemlos die Treppe rauf in den zweiten Stock schafft und beim Einkaufstütenschleppen plötzlich pausieren muss, darf das nicht nur dem Alter zuschreiben. Häufig ist sie ein Zeichen von Herzschwäche und Klappenproblematik.
Brustschmerzen
Ein Druck oder dumpfer Schmerz in der linken Brusthälfte, der in den linken Arm oder in den Hals ausstrahlen kann. Meist taucht er zuerst bei grösseren Anstrengungen auf – im Endstadium gar beim Zähneputzen oder in Ruhe.
Rhythmusstörungen
Sie zeigen sich als unregelmässiger Puls oder eine Art Unruhe. Oft spürbar beim Zubettgehen. Das Vorhofflimmern zum Beispiel eine häufige Rhythmusstörung, die unbehandelt zu einem Hirnschlag durch Blutgerinnsel (Embolie) führen kann.
Atemnot
Wer wegen Kurzatmigkeit nicht mehr problemlos die Treppe rauf in den zweiten Stock schafft und beim Einkaufstütenschleppen plötzlich pausieren muss, darf das nicht nur dem Alter zuschreiben. Häufig ist sie ein Zeichen von Herzschwäche und Klappenproblematik.
Vor allem, wenn es überraschend geschieht und gleich das erste Symptom ein Infarkt oder Herzstillstand ist?
Absolut. Eine Arthrose zeigt sich durch Schmerzen oder vielleicht schon im Röntgen Jahre, bevor sie Probleme macht. Das Herz hingegen wird dann zu einem gravierenden Problem, wenn es Menschen ohne die entsprechenden Vorzeichen oder Symptome trifft: bei einem Herzstillstand aus heiterem Himmel. Vielleicht wird uns Big Data einmal helfen, auf Menschen aufmerksam zu werden, die eine Früherkennung bräuchten, obwohl sie gar keine Anzeichen aufweisen.
Entscheidet schlussendlich allein die Nähe zu einem Spital darüber, ob man an einem akuten Herzinfarkt stirbt?
Wir sprechen diesbezüglich von «Pain to Needle Time». Das ist die Zeit, die zwischen den auftretenden Schmerzen und dem Beginn der nötigen Behandlung liegt. Beim Herzinfarkt sollte diese Zeit zwischen drei und maximal sechs Stunden liegen. Welches Gefäss von der Verstopfung betroffen ist, ist dabei matchentscheidend. Beim Hirnschlag beträgt diese Zeit 60 Minuten.
Sind sie spirituell?
Schwierige Frage, aber die Tatsache, dass ich nicht alles erklären kann, lässt mich schon auf eine schöpferische Macht schliessen. Auch die grosse Frage nach dem Wie und Warum. Spiritualität, philosophische Eigenreflexion oder Glauben: Das war für mich nie etwas Naives. Und vor allem, ich habe keine Angst vor den unlösbaren Fragen.
Rund 12'000 Operationen hatten Sie bisher zu verantworten. Die eine oder andere liess Sie bestimmt fragend zurück?
Als Chirurg bin ich sehr nah am Patienten. Ich habe meine Finger in seinem Körper, an seinem Herzen. Gelingt eine OP nicht, ist es schwierig zu sagen, dass man nichts dafürkann. Doch wir stehen nicht über der Natur. Antworten dazu habe ich leider nicht immer gefunden.
Den Entscheid für die Medizin und gegen die Musik haben Sie nie bereut?
Nein, ich empfinde es als Privileg, dass ich mit all meinen Operationen an Kindern und Erwachsenen weitere Lebensjahre schenken durfte. Wenn ich die Jahre zusammenrechne, die Patientinnen und Patienten dank der Operation erleben konnten, komme ich auf die fast unglaubliche Zahl von zwischen 300'000 und 400'000 Lebensjahren.