Darum gehts
Stell dir ein Dorf mitten in der Nacht vor. Plötzlich geht in einigen Häusern das Licht an – andere bleiben dunkel. So ähnlich verhält es sich im Gehirn eines Menschen, der schlafwandelt. «Das Phänomen tritt in der Übergangsphase vom Tiefschlaf zum Erwachen auf. Dabei sind nicht alle Hirnregionen gleich aktiv», erklärt Neurologin Rositsa Neumann (50) vom Zentrum für Stress- und Schlafmedizin der Klinik Hirslanden Zürich. «Während die motorischen Fähigkeiten bereits funktionieren, befinden sich höhere kognitive Bereiche noch im Tiefschlaf.»
Wie häufig Schlafwandeln vorkommt, lässt sich nur schätzen – bei einer Störung, die nachts auftritt und möglicherweise unbemerkt bleibt, dürfte die Dunkelziffer hoch sein. Die Wissenschaft geht davon aus, dass etwa jedes dritte Kind vor dem zehnten Geburtstag einmal schlafwandelt. Im Erwachsenenalter sind es nur noch zwei Personen von hundert. «Das liegt daran, dass Kinder einen höheren Anteil an Tiefschlaf haben, was die Wahrscheinlichkeit für partielles Aufwachen erhöht.»
Schlafwandler steigen aus dem Bett, gehen durchs Haus, manchmal auch aus der Tür oder – so die Horrorvorstellung – aus einem Fenster. Die Sorge vor Verletzungen ist ein häufiger Grund für eine Abklärung, sagt die Schlafexpertin. «Manche fürchten, im Schlaf etwas Gefährliches zu tun oder jemanden zu verletzen.» Schlimme Unfälle sind allerdings selten, Schadensmeldungen ungewöhnlich. «Ich habe erst einmal erlebt, dass ich ein Gutachten für eine Versicherung erstellen musste. Es ging um einen Autounfall.»
Was Schlafwandeln verstärkt
Es besteht eine genetische Veranlagung zum Schlafwandeln. In betroffenen Familien tritt die Störung bis zu zehnmal häufiger auf. Auch begünstigende Faktoren wie Schlafmangel, Fieber, Stress, Alkohol oder gewisse Medikamente erhöhen den Tiefschlaf und erschweren das Aufwachen. «Je höher der sogenannte Schlafdruck, desto intensiver der Tiefschlaf. Und damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Episode kommt», erklärt Neumann. Weitere mögliche Verstärker sind andere Schlafstörungen wie periodische Beinbewegungen bei Restless-Legs-Syndrom oder nächtliche Atemaussetzer, da sie Weckreaktionen auslösen.
Nächtliche Ausflüge bedeuten nicht immer Schlafwandeln. Ähnlich äussern sich REM-Schlaf-Verhaltensstörungen oder die sogenannte schlafgebundene hypermotorische Epilepsie. Auch psychische Störungen können sich nachts zeigen. Verwechselt wird Schlafwandeln oft mit anderen Aufwachstörungen wie dem Nachtschreck bei Kindern oder konfusionalen Erregungszuständen, die sich durch abruptes Aufrichten im Bett zeigen. Ein Patient kann alle drei Formen aufweisen. «Von Schlafwandeln im engeren Sinn spricht die Medizin erst ab dem Verlassen des Betts.»
So wird Schlafwandeln diagnostiziert
Die Diagnose «Somnambulismus» erfolgt selten im Schlaflabor, denn die Symptome sind unvorhersehbar. «Es wäre sehr teuer, jemanden so lange zu beobachten, bis er eine Episode hat», sagt Neumann. Oft basiert die Abklärung auf Schilderungen von Angehörigen. «Sehr typisch ist, dass das Schlafwandeln im ersten Nachtdrittel während der Tiefschlafphase auftritt», sagt die Expertin. Eine Polysomnographie im Schlaflabor erfolgt nur bei unklaren Verletzungen, zur Abgrenzung gegenüber nächtlicher Epilepsie, REM-Schlaf-Störungen, psychischen Erkrankungen oder zur Erfassung von Weckreaktionen.
«Es gibt Hinweise, dass Stress Schlafwandeln fördert»
Zur Therapie gehört vor allem eines: ein sicheres Umfeld. «Die Umgebung sollte so gestaltet sein, dass eine nächtliche Episode nicht zur Gefahr wird.» Also Fenster verriegeln, Stolperfallen beseitigen, spitze Kanten abdecken. Zusätzlich helfen ein geregelter Schlafrhythmus mit ausreichender Schlafdauer sowie Stressabbau. «Es gibt Hinweise, dass Stress Schlafwandeln fördert – auch wenn das wissenschaftlich noch nicht gut belegt ist», sagt Neumann. In Einzelfällen zeigen Medikamente – etwa Benzodiazepine, die den Tiefschlaf unterdrücken, oder Melatonin – positive Wirkung. Die Datenlage ist allerdings dünn. «Grössere Studien sind selten, da Schlafwandeln nicht häufig genug auftritt und sich im Labor schwer aufzeichnen lässt.»
Schlafwandler wecken? Lieber nicht.
Dass man Schlafwandler nicht wecken sollte, bestätigt die Ärztin. «Plötzliches Wecken kann zu Orientierungslosigkeit oder sogar aggressiven Reaktionen führen, weil das Bewusstsein die Umstände nicht begreift.» Besser sei es, ruhig zu bleiben, Betroffene leise anzusprechen und sanft zurück ins Bett zu führen. Am nächsten Morgen erinnern sie sich meist an nichts mehr. «Und wenn doch, dann nur in traumähnlicher Form.»