Darum gehts
- Long Covid ist eine Autoimmunerkrankung, die verschiedene Körpersysteme beeinträchtigt
- Diagnose schwierig, keine zugelassenen Medikamente oder Therapien verfügbar
- Etwa 450’000 Betroffene in der Schweiz, bis zu 80 % sind Frauen
Blick: Die Musikerin Lea Lu war durch Long Covid ein ganzes Jahr lang mehr oder weniger in ihrer Wohnung gefangen. Kommen so schwere Verläufe oft vor?
Chantal Britt: Man geht davon aus, dass die Krankheit bei etwa einem Drittel der schätzungsweise 450’000 Betroffenen in der Schweiz mittelschwer bis schwer verläuft. Lea Lu ist also bei weitem kein Einzelfall. Es ist erstaunlich, dass sie sich nach so langer Zeit so gut erholt hat. Tendenziell sinken die Chancen, je länger die Symptome andauern. Es gibt Menschen, die wegen Long Covid seit über fünf Jahren ihr Zuhause nicht mehr verlassen haben.
Was ist Long Covid eigentlich?
Wir gehen davon aus, dass es eine Autoimmunerkrankung ist. Es ist nicht das Virus, das den Körper schädigt, sondern die Überreaktion des Körpers auf das Virus. Long Covid ist eine Multisystem-Erkrankung, die unterschiedliche Körpersysteme dereguliert, zum Beispiel den Stoffwechsel, die Verdauung oder das Herz-Kreislauf-System – und so auch die Funktion unterschiedlicher Organe beeinträchtigt.
Wer ist am meisten betroffen?
Allergiker haben eine höhere Prädisposition. Und: Bis zu 80 Prozent der Betroffenen sind Frauen. Ihr Immunsystem scheint anfälliger zu sein.
Spielt es eine Rolle, ob man geimpft ist?
Tendenziell ist der Verlauf bei Geimpften milder, aber dafür gibt es keine Garantie. Theoretisch kann auch die Impfung dieselben Symptome auslösen, das ist aber bei weniger als einem Prozent der Betroffenen der Fall.
Welche sind die häufigsten Symptome?
Es gibt diverse Subtypen und demnach auch sehr unterschiedliche Symptome. Ein Schlüsselsymptom, das allen gemeinsam ist: die sogenannte Belastungsintoleranz. Körperlich und kognitiv erträgt man viel weniger als vorher – bis zu nahezu gar nichts. Wenn die Belastungsgrenze überschritten wird, kommt es Tage später zu einem sogenannten Crash, der die Genesung wieder weit zurückwirft.
Warum ist die Diagnose so schwierig und langwierig?
Es werden keine standardisierten Diagnosetools angewendet, sondern ein Ausschlussverfahren: Erst wenn alles andere ausgeschlossen wird, kann man Long Covid diagnostizieren. Die Forschung hat offenbar kein Interesse daran, entsprechende Tools zu entwickeln. Man geht lieber davon aus, dass sich Hunderttausende eine körperliche Krankheit einbilden.
Selbst die Diagnose nützt wenig: Es gibt weder zugelassene Medikamente noch Therapien.
Und nur wenige Ärzte, die versuchen, Lösungen zu finden. Patientinnen organisieren sich in Selbsthilfegruppen und tragen die Risiken und die Kosten von experimentellen Behandlungen selbst.
Lea Lu hat sich für Blutwäschen entschieden. Was halten Sie davon?
Wir befürworten jede Therapie, die den Körper bei Long Covid einen Schritt weiterbringt, auch wenn sie ihn nicht heilen kann. Blutwäschen, die zum Beispiel Antikörper, schädliche Stoffe oder Blutbestandteile aus dem Blut filtern, helfen vielen. Solche Schritte, mögen sie auch noch so klein sein, geben die Energie, um weiterzugehen. Ein «Wundermittel» gibt es leider noch nicht.
Was bezahlt die Krankenkasse?
Höchstens gewisse zugelassene Medikamente bei Symptomen, zum Beispiel Betablocker bei Herzrasen. Sonst muss man alles selbst bezahlen. Long Covid ist ein finanzielles Desaster, gerade für Frauen.
Wie meinen Sie das?
Das Durchschnittsalter der Betroffenen ist etwa 40 Jahre. Da sind also viele Mütter dabei, die oft Teilzeit arbeiten und ihr Pensum noch weiter reduzieren müssen. Das wiederum hat nicht nur direkte finanzielle Folgen, sondern auch langfristige, zum Beispiel, was die Pensionskasse betrifft. Ich kenne viele Betroffene, die auf Crowdfunding zurückgreifen mussten, weil sie keine Ersparnisse und keine Hilfe aus dem Umfeld hatten. Solche Menschen fallen durch die Maschen. Meiner Meinung nach widerspricht das allen Werten, für die unsere Gesundheits- und Sozialsysteme eigentlich stehen.
Lea Lu hat ihre Krankheit lange verschwiegen …
Das verstehe ich gut, das Stigma ist riesig. Wer schon auf dem Weg zur Diagnose regelmässig die Erfahrung macht, nicht ernst genommen zu werden, schweigt lieber. In unserer Leistungsgesellschaft wird Krankheit als Schwäche gesehen, das will niemand. Long Covid versaut einem das ganze Leben!
Sie selbst haben zum Ziel, wieder einen Marathon zu laufen.
Davon bin ich leider momentan weit entfernt. Aber ich bin sicher, dass es irgendwann, wenn wir Long Covid besser verstehen, zumindest wieder zum Training reichen wird.