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Im Homedress durch die Pandemie
Die neue Gemütlichkeit

Kleidervorschriften wurden schon vor Corona kaum eingehalten. Jetzt schon gar nicht mehr. Selbst Top-Shots aus Politik und Wirtschaft wollen sich in Zeiten der Einschränkung offenbar einen gewissen Komfort bewahren.
Publiziert: 09.01.2021 um 18:16 Uhr
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Ungewohnt leger: EU-Ratspräsident Charles Michel (45) trägt Rollkragenpullover und karierten Anzug.
Foto: Anadolu Agency via Getty Images
Jonas Dreyfus

Er war angezogen, als hätte er gerade einen Nachmittag vor dem Kamin verbracht. Dabei stand bei EU-Ratspräsident Charles Michel (45) am 30. Dezember etwas ganz anderes auf dem Programm, als zum Geräusch knisternder Flammen Zeitung zu lesen und dabei womöglich an einem Glas Single-Malt-Whisky zu nippen. Der ehemalige Premier Belgiens unterschrieb mit Kommissionschefin Ursula von der Leyen (62) das lange verhandelte Brexit-Handelsabkommen mit Grossbritannien.

Statt eines dunklen, unifarbenen Anzugs mit Krawatte, wie männliche Politiker ihn zu solchen Anlässen gewöhnlich tragen, entschied sich Michel für ein blau und hellblau kariertes Freizeitmodell und einen schwarzen Rollkragenpullover.

Das Outfit sah nicht schlecht aus – im Gegenteil: Es unterstrich das gmögige Aussehen des Familienvaters mit Bart, Glatze und Brille, der ein paar Tage zuvor Geburtstag gefeiert hatte. Dass ein Top-Politiker bei einer Vertragsunterzeichnung dieser Grössenordnung den Dresscode komplett missachtet, ist dennoch ein Zeichen für etwas, was sich schon lange abzuzeichnen begann: Der Business-Look ist tot.

Selbst die Casual-Variante ist zu unbequem fürs Homeoffice

Das Drama begann bereits vergangenen Mai, als J. Crew Insolvenz anmeldete. Das New Yorker Milliardenunternehmen versorgte seine Kundinnen und Kunden mit Mode für den Business-Casual-Look – eine lockere Variante des klassischen Business-Outfits, das für Frauen ein Kostüm oder einen Hosenanzug vorsieht. Doch fürs Homeoffice sind selbst die weit geschnittenen Blazer, knöchellangen Bundfaltenhosen und Loafers, die den Business-Casual-Look definieren, zu unbequem.

Gar keine Funktion mehr haben massgeschneiderte oder angepasste Anzüge für Männer. Warum auch, wenn der Bildausschnitt im Video Call gerade mal den Oberkörper zeigt – und das auch nur, wenn sich der Video Caller gelangweilt im Stuhl zurückgelehnt.

Das war einer der Gründe, warum mit Brooks Brothers im vergangenen Juli einer der letzten grossen Herrenausstatter bankrottging. Seine Nadelstreifenanzüge trugen US-Präsidenten von Abraham Lincoln bis Barack Obama, Börsenmakler von Manhattan, London und Tokio demonstrierten damit ihren sozialen Status.

Luxus-Loungewear und klobige Halsketten boomen

Der Markt für Business-Kleidung sei schon seit einer Weile am Einbrechen, sagt Jessica Cadmus, Stylistin aus der Finanzbranche und ehemalige Mitarbeiterin von Brooks Brothers, gegenüber CNN. Traurigerweise sei die Pandemie nun «der letzte Nagel im Sarg». Laut Cadmus ist das Hemd das einzige formelle Kleidungsstück, das bei Männern im Moment noch gefragt ist. Bei Frauen boomen sogenannte Statement Necklaces: klobige Halsketten, die selbst in grob verpixelten Zoom-Meetings sichtbar bleiben.

Der Trend, sagt sie, gehe jetzt in Richtung Loungewear aus luxuriösen Materialien wie Kaschmir. Zum Beispiel in Form eines Homedress – eine Art Trainingsanzug für zu Hause, der wegen der Zurückgezogenheit, in der wir gerade leben, ein Revival feiert.

Dass sich diejenigen, die gezwungenermassen an die Öffentlichkeit müssen, ein Stück dieser neuen Gemütlichkeit bewahren wollen, zeigen auch die Auftritte der angehenden US-Vizepräsidentin Kamala Harris (56), die in übergrossen Rollkragenpullovern und cremefarbenen Wollblazern vor ihre Anhängerschaft tritt. Zeit zum Relaxen wird sie in naher Zukunft trotzdem nicht haben.

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