Wie sich die Magazin-Redaktion die Kultur erhalten hat
Unsere schönsten Kulturmomente trotz Corona

Was tun, wenn die Kulturstätten zu und die Tage lang sind? Vier Mitglieder der Magazin-Redaktion erzählen, wie sie trotz oder wegen Corona Neues entdeckt haben oder wieder zu alten Leidenschaften zurückgefunden haben.
Publiziert: 03.01.2021 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 01.03.2021 um 08:23 Uhr
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Praktikantin Lea Ernst hat sich in den letzten Wochen an einen russischen Klassiker gewagt.
Foto: Wikipedia
Die Redaktion

Wortgewaltiger Wälzer

Seit zwei Jahren steht er da in meinem Zimmer und blickt missbilligend auf mich hinab. Mit einschüchternder Statur und abgewetztem Mantel, der ihm eine langlebige Weisheit verleiht. Eines Tages würde ich mir den russischen Klassiker «Die Brüder Karamasow» von Fjodor Dostojewski vorknöpfen, sagte ich mir. Doch dazu bräuchte es schon so etwas wie eine Pandemie.

So betörend mir die endlose Weite Russlands erschien: Seine endlosen Wälzer schreckten mich ab. Zäh wie Kaugummi dehnen sich Charakterbeschreibungen über mehrere Seiten. Fast jede Person hat gleich mehrere Namen, die nicht im Geringsten eingeführt werden und alle ähnlich klingen. Das macht mich wütend. Wieso solch ein Buch trotzdem in meinem Regal stand? Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki rühmte «Die Brüder Karamasow» als das beste Buch der Welt, und auch Sigmund Freud bezeichnete es als einen der gewaltigsten Romane der Weltliteratur.

Vor Corona waren meine Freitagabende laut und voll, und jetzt ist da nur noch stille Weite. Klirrend kalt blühen Eisblumen auf dem Fenster, durch das ich in das russische Dorf im 18. Jahrhundert blicke. Mein Buch ist mein Fenster in ein Land, das mir vor dem Lesen fremd war. In der Schule habe ich das Figürchen von Google Maps manchmal mitten in der Unendlichkeit Russlands fallen lassen, um zu sehen, wie es am Ende der Welt aussieht. Gerade dort soll nun also der Anfang der besten Lektüre der Welt, der Urknall der Weltliteratur stattgefunden haben.

Nach zwei Monaten oder 50 Stunden habe ich es geschafft. Erschöpft klappe ich den scheinbar niemals endenden Strudel aus Armut, Mord und Intrigen zu. Es ist schier unfassbar, wie tief mich Dostojewski in menschliche Seelen hat blicken lassen. Doch noch stärker als das Gefühl des Abscheus: Mitleid. Dostojewski beobachtet und erfasst Menschen verschiedener Schichten, Altersklassen und Geschlechtern mit solcher Präzision, dass ich das Gefühl habe, sie alle gleichzeitig zu sein und ihre Handlungen nachvollziehen zu können. Um die Charaktere dermassen exakt zu entfalten, braucht es viel Zeit und Kaugummi.

Das Buch hat meine Art zu Lesen verändert und sie vom Sprint wieder in den Entdeckungsmarathon meiner Kindheit verwandelt, als ich komplett in einer Geschichte versunken bin. Doch anstatt mich zu unterhalten, haben mir die Brüder Karamasow die Realität wie ein harter Schneeball mitten ins Gesicht gedonnert, sobald ich den Wälzer wieder aufgeschlagen habe.

Die Themen des Buches, eine tief gespaltene Gesellschaft, Krankheit und der Verlust von Hoffnung waren in diesem Jahr kein bisschen weniger aktuell als damals. Einsam und innerlich gespalten standen die Russen der endlosen Weite gegenüber. Ob in der kargen Einöde oder während Corona: Fallen externe Stimuli weg, stehen wir uns selber gegenüber.

Lea Ernst, Praktikantin Magazin

Auftakt der Musik

Am schönsten ist das Auflegen. Wenn das schwarze Rund auf dem Teller dreht und man die Nadel setzt und dann warmes Raspeln durch die Boxen klingt. Als Auftakt. Für die Musik.

Als Teenager habe ich mein ganzes Geld für Schallplatten ausgegeben. Viel Hip-Hop, viel Soul-Musik. Meine Sammlung ist der Soundtrack meiner Jugend und wie ein Fotoalbum. Zu jeder Platte hab ich eine Erinnerung. Irgendwann kaufte ich dann kein Vinyl mehr. Und wenn ich ehrlich bin, hörte ich die Platten auch nur noch sporadisch. Bis Corona kam – und ich wieder in den Erinnerungen zu stöbern begann. Es hat etwas Beruhigendes, sich für eine Platte zu entscheiden, sie aufzulegen und zu Ende zu hören. Ich hab mir fest vorgenommen, auch nach Corona nicht mehr damit aufzuhören.

Benno Tuchschmid, Leiter Magazin


Kunst ist überall

Mit Edvard Munch (1863–1944) fing alles an. Die Welt war stillgelegt, doch ich kam in meiner Wohnung nicht zur Ruhe. Bis ich im Netz auf einen Dokumentarfilm mit dem berühmten Gemälde «Der Schrei» stiess: Der aufgerissene Mund klafft wie ein riesiges Loch. Vergeblich versuchen die Hände rechts und links des Kopfes die Wucht des Schreis zu mildern. Ein Bild aus der Not der Angst heraus geschaffen – der norwegische Maler litt an einer schweren manisch-depressiven Störung.

Ich fühlte mich abgeholt und aufgehoben. Kunst wurde zu meinem Halt. Ich las Onlinetexte, bestellte Bücher, schaute Filme, und nach dem Lockdown streifte ich stundenlang durch Museen. Wussten Sie, dass vor dem Kunsthaus Zürich ein Abguss von Auguste Rodins (1840–1917) «Höllentor» steht? Ich war sprachlos, als ich es sah. An diesem Werk hatte sich der berühmte Bildhauer 37 Jahre lang abgearbeitet – und es dann fast ganz zerstört. Die Kunst hat meinen Blick geschärft, mein Herz geöffnet. Ein Amsel-Schwarm tanzt im Wind, blutrote Vogelbeeren leuchten im Nebel – die Museen sind jetzt geschlossen, aber Kunst ist überall. Und Kunst ist in uns.

Rebecca Wyss, Redaktorin Magazin

Der ständige Begleiter

Bereits als Siebenjährige war der Radio mein Ein und Alles. Doch ich wechselte nicht zwischen den Frequenzen hin und her, sondern tauchte in die Abenteuer von Bibi Blocksberg ein. Meistens hexte sie mich schon in den Schlaf, bevor die erste Seite der Kassette fertig war.

Aufs Radiohören kam ich erst im Studium. Ein kleiner, blauer Empfänger stand im Badezimmer unserer WG in Wien – und war fortan mein morgendlicher Begleiter. Der österreichische Sender FM4 war damals sehr beliebt, vor allem weil explizit kein Mainstream gespielt wurde. Bald schon kamen CDs, der iPod und dann Streamingdienste wie Spotify in Mode. Wie bei den meisten Dingen, die neu sind, erkennt man erst nur den Segen. Bis dann eben der Fluch kommt. Bei Portalen wie Spotify oder Netflix können wir Konsumierenden zwar hören oder sehen, was wir wollen. Was ist aber, wenn wir nicht wissen, was wir wollen? Wenn wir zu müde sind für auch nur eine weitere Entscheidung an diesem Tag? Seit ich oft im Homeoffice arbeite, habe ich das Radiohören wieder entdeckt. Ich muss nur einschalten, nichts suchen, nichts entscheiden. Das Radio begleitet mich durch den Tag. Die Nachrichten, die Lieder, die Sendungen geben meinem Alltag Struktur und sind zu einem verlässlichen Ritual geworden.

Alexandra Fitz, stv. Leiterin Magazin

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