Von Aurelia Robles
«Lueg, druff tue, gäll?», wiederholt Rita Strohmeier immer wieder. Es ist der einzige Satz, den die 64-Jährige noch sagt. In ihren Händen liegt das letzte Fotobuch, das sie gestaltet hat. Es ist von 2017 und eines von vielen. Nach ihrer Diagnose der semantischen Demenz im Jahr 2013 begann die damalige Bankangestellte, die stets versiert mit Zahlen und Computern umging, alles festzuhalten. «Fast manisch fotografierte Rita alle Personen aus dem Umfeld und schrieb deren Namen und Adresse nieder, bestellte Fotobücher», erzählt ihr Mann Roland Strohmeier (65). «Ihr war klar, dass sie sich bald nicht mehr an die Leute erinnern kann.»
Dieser Fall ist längst eingetroffen. Ritas Demenz macht die höchste Pflegestufe erforderlich. Sie benötigt Rundumbetreuung, Hilfe beim Anziehen, beim Essen und beim Toilettengang. Sie braucht Kontrolle, damit sie nicht die heissen Pfannen anfasst oder etwas Falsches in den Mund nimmt – etwa die Blätter der Sonnenblumen, die in der Vase stehen.
Die einstige Gemeinderätin von Büsserach besitzt eine Aufmerksamkeitsdauer von null, ihr Mann Roland dafür einen Fulltimejob. Damit gehört er zu den 600'000 Menschen in der Schweiz, die zu Hause einen älteren, kranken oder behinderten Angehörigen betreuen. Seine Frau in ein Pflegeheim zu geben, ist für ihn noch keine Option. «Sie hätte es umgekehrt auch so gemacht», sagt der ehemalige Unternehmer gerührt. «Und was soll ich zudem allein in diesem grossen Haus?»
Seine Frau, die er in der Schulzeit kennenlernte und vor 42 Jahren heiratete, ist in Büsserach aufgewachsen. Anfang zwanzig bauen sie ein Eigenheim, ziehen zwei Töchter gross. «Es ist ein Glück, dass wir auf dem Land leben, die Leute im Tal und im Dorf kennen Rita und wissen von ihrer Krankheit.»
Nur ein paar Meter entfernt leben auch Ritas Eltern. Jeden Morgen, wenn die Haustür aufgeschlossen wird, sprintet sie los zu ihrer 91-jährigen Mutter und zu ihrem 94-jährigen Vater – um dann gleich nach dem Kaffee wieder zu gehen. Roland Strohmeier schaut seine Frau schmunzelnd an. «Wir haben oft ein Gaudi zusammen.» Sie beginnt ebenfalls zu lachen. Wenn er Schwyzerörgeli spielt, klatscht sie.
Früher reiste das Paar oft, machte Mountainbike-Touren. 2012 bestiegen sie den Kilimandscharo und gingen auf Safari. Diese Reise wollte Rita unbedingt machen, bereitete sich ungewöhnlich akribisch vor, ein erstes Anzeichen. Mittlerweile ist von der Person, die Roland Strohmeier als seine Frau gekannt hat, nicht mehr viel zu erkennen. «Ich bezweifle, dass sie mich noch richtig wahrnimmt.» Emotionen oder Nähe zeigt ihm Rita kaum. «Sie hat lieber Frauen. Zu ihren Betreuerinnen ist sie meist zärtlicher als zu mir.» Er lacht. «Ich bin ja auch immer um sie herum und der Strenge, der ihr einiges verbietet.
Die Website betreuen.redcross.ch des Schweizerischen Roten Kreuzes beantwortet wichtige Fragen.
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Ein Jahr nach der Diagnose begann sich der Zustand von Rita Strohmeier zu verschlechtern. «Wir haben stets gesund gegessen, nie geraucht, nicht viel Alkohol getrunken – alles richtig gemacht …», schnell fügt er an: «Das ist unser Vorteil. Deshalb geht es uns so gut. Die Ärzte prophezeiten damals eine Lebenserwartung von verbleibenden fünf bis sechs Jahren.» Hadern passt nicht zu ihm. Lieber betont er, dass sie in einer glücklichen Lage seien. «Ich kenne keinen Fall, in dem die Organisation der Betreuung und der Alltag so gut gehen.»
Seit dem Wissen um die Demenz seiner Frau besuchen er und seine Töchter regelmässig Vorlesungen, Veranstaltungen und Angehörigengruppen. «Uns wurde schnell gesagt, dass wir offen mit dem Thema umgehen sollen. Und auch, dass es wichtig ist, auf einen selbst zu schauen.»
So nimmt er früh Hilfe des Roten Kreuzes Baselland in Anspruch. Jeden Dienstag kommt eine Pflegehelferin vom Entlastungsdienst Dementia Care zu ihnen nach Hause. Dann hat er Zeit für sich, kann durchatmen, wieder einmal Roland Strohmeier sein und nicht nur Pfleger und Betreuer. «Diese fixe Entlastung des SRK ist ein Geschenk. Sie ermöglicht mir, in meine Laufsportgruppe zu gehen.»
Die Strohmeiers sind eine von 2500 Familien, denen Spenden ermöglichen, zu tragbaren Tarifen Hilfe in Anspruch zu nehmen. Rund 260'000 Stunden – davon 27 Prozent zur Entlastung von Familien mit einer an Demenz erkrankten Person – waren es 2019. Die Tendenz ist steigend. Das SRK möchte mit dem Entlastungsdienst verhindern, dass die Angehörigen durch die Pflege des Familienmitgliedes sich selber vergessen und gar selbst krank werden.
Sechs weitere Betreuerinnen aus dem privaten Umfeld stehen Roland Strohmeier neben der SRK-Pflegehelferin zur Seite. «Mein Harem», sagt er lachend. Öfters tauscht er mit ihnen Geschichten über Rita aus. Wie sie stets neue Autos kaufen wollte, als sie den Führerschein abgeben musste. Oder wie sie mit mehreren tausend Franken in der Handtasche zum Abend der Damenriege auftauchte, die sie einst präsidierte. Daraufhin musste er ihre Konten sperren.
Und dennoch: ihm gehe es super. «Wegen Ritas Demenz habe ich meine Firma früher verkauft, als wir geplant hatten. Der beste Entscheid. Mein neuer Job ist nun Hausmann und Rita betreuen.» Roland lässt nicht zu, dass die Krankheit ihn und seine Frau isoliert – dann kommen eben die Leute zu ihnen nach Hause. «Wir haben trotz allem ein gutes Leben», sagt er und lächelt seine Frau an. Und Rita lacht laut zurück.