Ein kleiner Raum in der Länggasse in Bern. Laptops sind aufgeklappt, nacheinander trudeln fünf Jugendliche ein. Sofie und Valy, beide 18, setzen sich an den Tisch und plaudern über ihren Tag. Die Gymnasiastinnen haben ihre blonden Haare locker zusammengebunden. Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, sie wären Schwestern. Valy ist etwas zurückhaltend, spricht langsam. Sofie gestikuliert mit ihren Händen, wenn sie ihre Sätze formuliert, und blickt einem dabei direkt in die Augen.
Was wie ein gemütliches Zimmer einer WG wirkt, ist ein Raum, in dem viele Geschichten schwirren. Seit Anfang April treffen sich drei Gymnasiastinnen, eine Auszubildende und ein Student einmal die Woche in den Büros von Pro Juventute, um von 19 Uhr bis 22 Uhr mit Gleichaltrigen, die Sorgen haben, zu chatten. Dies tun sie unter einem Spitznamen.
Jugendsuizidalität ist immer noch ein Tabuthema
Sie selbst haben schwierige Zeiten hinter sich und begegnen den ratsuchenden Jugendlichen auf Augenhöhe. Liebeskummer, Fragen zu Sex, zum Outing, Unsicherheiten, Mobbing, Scheidung der Eltern, Selbstverletzung und sogar suizidale Gedanken – alles Themen, die ihnen jeden Montagabend begegnen. Unterstützt werden sie von Moritz Mahr (26), einem erfahrenen Berater des Sorgentelefons 147.
«Niemand mag mich, keiner versteht mich», «Das Leben hat keinen Sinn», «Ich kann nicht mehr» – solche Aussagen hört man unter jungen Schweizern immer öfter. Die Juvenir-Umfrage, eine Studienreihe zu Schweizer Jugendlichen, zeigt, dass rund die Hälfte der 15- bis 21-Jährigen sich häufig gestresst oder überfordert fühlt. Wenn der Druck länger anhält, können die Jugendlichen Schlafstörungen, körperliche Beschwerden, Depressionen und sogar Suizidgedanken haben.
Hinzu kommt, dass Mobbing heute durch Online-Portale und Smartphones keine Pause kennt: Konnten sich ausgeschlossene Jugendliche früher wenigstens zu Hause erholen, sind sie heute nonstop mit ihren Mobbern konfrontiert, weil alle ständig am Handy sind. Jeden Tag suchen rund 350 Jugendliche Hilfe beim Sorgentelefon, immer häufiger mit schwerwiegenden Problemen: Selbstzweifel, Versagensängste, Hoffnungslosigkeit. Und zwei bis drei äussern dabei Selbstmordgedanken. Jeden dritten Tag nimmt sich ein Mensch unter 24 das Leben. Trotzdem ist Jugendsuizidalität in unserem Land noch immer ein Tabuthema.
Auch die Chat-Beraterin Sofie ist noch sehr jung, als sie in einen Strudel von Sorgen gerät. Sie ist zwölf, als sich ihre Eltern scheiden lassen. Ein einschneidendes Erlebnis für sie: «Ich musste zuschauen, wie es zu Handgreiflichkeiten zwischen meinen Eltern kam, und war dabei, als das Ganze vors Gericht weitergezogen wurde.» Kurz danach erkrankt ihre Mutter schwer. Für Sofie alles zu viel. Sie denkt an Selbstmord. Während sie von den traurigsten Momenten ihres so jungen Lebens erzählt, sucht sie immer wieder den Blick ihrer besten Freundin Valy, manchmal berühren sich ihre Hände.
Vor allem junge Frauen melden sich
Lange denkt sie, sie könne die Situation alleine bewältigen. Als ihr Körper Signale sendet, erkennt sie: Jetzt reichts! «Ich brauchte Zeit, mich zu öffnen», sagt Sofie. Ihre Mutter und Geschwister geben ihr Kraft, aus den negativen Gedanken herauszukommen. «Ich musste mir eingestehen, dass mir meine Familie zu wichtig ist, als dass ich sie zurücklassen könnte.»
Auch Valy, die sie in der schweren Zeit kennenlernte, gab ihr neuen Lebensmut. Sie konnte nur zu gut nachvollziehen, wie Sofie sich fühlte. Valy hatte es selbst nicht immer einfach. Sie lebte zeitweise in einer Pflegefamilie, hatte eine Abtreibung, verletzte sich selbst und spielte mit dem Gedanken, ihr Leben zu beenden. Heute sind die beiden jungen Frauen stärker denn je. Sie haben einander geholfen, die schönen Seiten des Lebens zu sehen.
Das sollen auch die Jugendlichen beim Chatten. «Wir wollen ihnen zeigen, dass ihre Probleme auch andere Jugendliche kennen und sie lösbar sind, und wir wollen ihr Selbstwertgefühl wieder aufbauen», sagen die beiden. Niemand könne so gut verstehen wie sie, was die Jugendlichen durchmachen. «Die Ratsuchenden sollen wissen, dass es immer jemanden gibt, der einem helfen kann, egal bei welchem Thema», sagt Sofie. Sie ist bei einem Workshop der Schule auf das Projekt von Pro Juventute gestossen und hat Valy davon erzählt. «Es ist ein gutes Gefühl, wenn man jemandem helfen kann.»
Fast 40 Jugendliche, mehrheitlich Frauen, haben sich bisher in den Chat-Sessions gemeldet. 13 Jahre alt war die jüngste Ratsuchende, 21 die älteste. Dreissig bis vierzig Minuten dauern die Chats, meistens findet das Gespräch dann von selbst einen Abschluss. Obwohl man via Chat keine Stimme hört, die bricht oder stockt, lesen die jungen Beraterinnen doch heraus, was im Gegenüber vor sich geht: Schreibstil, Schreibfehler, Geschwindigkeit und nicht zuletzt ihre Intuition helfen ihnen dabei.
Die Hemmschwelle beim Chatten ist niedriger
Die vollständige Anonymität, die ein Chat bietet, bestärkt die Jugendlichen, schnell mit ihren Problemen herauszurücken, die Hemmschwelle ist niedriger als bei einer Face-to-Face-Beratung oder einem Telefonat. «Ich war selbst erstaunt, wie schnell auch heftige Geschichten auftauchen», sagt Coach Mahr.
Vor allem ihre erste Chat-Erfahrung geht Sofie nicht mehr aus dem Kopf. Es ist eine besonders tragische Geschichte, die ihr die Buchstaben auf dem Bildschirm erzählten. Eine 16-Jährige hatte sich gemeldet. Verzweifelt, hoffnungslos, suizidal.
Sie und ihre beste Freundin hatten beschlossen, sich umzubringen. Die Ratsuchende machte einen Rückzieher, ihre beste Freundin hielt die Abmachung ein. Als sich die junge Frau bei Sofie im Chat meldete, war sie kurz davor, ihrer Freundin in den Tod zu folgen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber. Sofie versuchte, sie zu stabilisieren, und zog wegen der akuten Gefahr den Coach bei. Dieser hat den Chat übernommen, die junge Frau professionell beraten und Hilfe vor Ort aufgeboten.
«Man nimmt immer etwas mit nach Hause», sagen Sofie und Valy. Bei manchen Fällen habe man auch Angst, dass man nicht helfen kann. «Wir müssen lernen, damit umzugehen, schliesslich können wir nach dem Ende eines Chats keinen Kontakt mehr zu den Jugendlichen aufnehmen», ergänzt Valy. «Was sie dann tun, das können wir nicht mehr beeinflussen.» Nach besonders schweren Schicksalen bleiben die jugendlichen Berater an den Montagabenden häufig noch etwas länger in dem kleinen Raum sitzen; sie besprechen, wie sie sich fühlen, und tauschen sich mit Berater Moritz Mahr aus.
Zwei Wochen nach dem Chat meldete sich die 16-Jährige wieder bei Sofie. Sie hatte sich für das Leben entschieden.
Hier geht es zum Chat von Pro Juventute