Darum gehts
«Welche Tonart?», fragt Lea Lu (40). «C-Dur.» Gioia (21) drückt auf die Keyboardtaste. Dass Lea die angehende Musikstudentin beim Songschreiben coachen kann, grenzt für die Zürcher Musikerin an ein Wunder. Vor noch nicht allzu langer Zeit war es für sie kaum denkbar, ihre Wohnung zu verlassen. Heute bedeutet eine solche Songwriting-Session für Gioia, dass sie einen Corona-Schnelltest machen muss, bevor sie mit Lea in einen geschlossenen Raum darf – wie alle in deren Umfeld. Lea trägt, wann immer nötig, eine Maske.
2022 steckte sich Lea Lu an einer Hochzeit erstmals mit Covid an. Ausgerechnet sie, die sich während der Pandemie immer schützte, auch an jenem Fest nur zum Anstossen die Maske abnahm. Der Verlauf war heftig, aber nach wenigen Wochen vorbei. Das zweite Mal erwischte es sie ein Jahr später während eines Aufenthalts in Indien, wo sie Konzerte gab. Nach wenigen Tagen war Lea wieder fit, reiste nach einer Woche heim. Kurz nach ihrer Rückkehr treten heftige Symptome auf. Lea Lu kann kaum mehr aus eigener Kraft aufstehen, verspürt Herzrasen, denkt an einen Infarkt. Es kommen Atemnot und stechende Schmerzen am ganzen Körper dazu. Kardiologin, Pneumologin – niemand findet eine Ursache. Die Aussage «Das ist psychisch» kommt rasch – und ist Ausdruck der Tatsache, dass sich viele Ärzte mit Long Covid nicht auskennen.
Ein Jahr lang in der Wohnung gefangen
Lea kehrt auf Anraten der Ärzte zurück in ihren Alltag, auch wenn es ihr täglich schlechter geht. Sie arbeitet im Musikstudio, gibt, in einem Sitzsack liegend, Gesangsstunden, steht auf der Bühne – beziehungsweise sitzt, denn stehend gehts nicht mehr. «Ich habe meinen Körper drei Monate lang zu Boden gerockt», sagt sie rückblickend. Irgendwann kann sie nach einem Konzert nicht mehr aufstehen. «Meine Band hat mich zum Auto getragen und heimgefahren.» Als endlich die Diagnose Long Covid kommt, ist die Musikerin am Limit ihrer Kräfte. Sie liegt 23 Stunden am Tag im Bett.
«Wie es sich anfühlt? Stell dir vor, du hast die schlimmste Grippe, gepaart mit dem schlimmsten Kater aller Zeiten. Dazu Wackelkontakt im Gehirn. Lesen und schreiben geht nicht mehr», sagt Lea. «Und das wird zum Dauerzustand.» In Lea Lus Fall ein ganzes Jahr lang. Ein Jahr, in dem sie ihre Zürcher Wohnung kaum verlässt. «Manchmal habe ich zwei Stunden lang ein Wasserglas neben meinem Bett angestarrt und versucht, meiner Hand den Befehl zu geben, das Glas zu nehmen.» Das untrüglichste Long-Covid-Symptom ist die Belastungsintoleranz, sowohl physisch als auch kognitiv. Lea: «Kleinste Aktivitäten lösten heftigste Symptome aus. An manchen Tagen reichte die Energie gerade mal zum Zähneputzen.» Überschreitet man die Belastungsgrenze, löst das einen sogenannten Crash aus, der die Genesung meilenweit zurückwerfen kann. «Karotten schnetzeln führte mal zum Zusammenbruch.» Leas damaliger Partner und Freundinnen helfen ihr im Alltag. Mehrmals muss sie fünf Stockwerke zu ihrer Wohnung hochgetragen werden.
Ein finanzielles Desaster
Da es für Long Covid weder zugelassene Medikamente noch Therapien gibt, erkundigt Lea sich selbst – an guten Tagen, an denen das möglich ist. Sie meldet sich bei Long Covid Schweiz, tauscht sich in Selbsthilfegruppen aus, lässt sich bei Long-Covid-Spezialisten auf die monatelange Warteliste setzen. So stösst sie auf die Blutwäsche, bei der schädliche Stoffe oder Blutbestandteile aus dem Blut gefiltert werden. Lea unterzieht sich zwölfmal dieser Prozedur. Eine einzelne kostet 2000 Franken. Die Krankenkasse übernimmt keinen Rappen. Ein finanzielles Desaster. Für Lea Lu ist die Therapie der entscheidende Schritt, um auf ein Energielevel zu kommen, das reicht, um die Genesung Schritt für Schritt voranzutreiben. «Ich hatte das grosse Glück, dass mich mein engstes Umfeld während der Krankheit nicht nur psychisch und physisch, sondern auch finanziell gestützt hat. Ohne das wäre es nicht gegangen.»
Als Folge von Long Covid wird bei Lea das Chronische Erschöpfungssyndrom ME/CFS diagnostiziert. «Dieses Wort chronisch, also unheilbar, löste etwas in mir aus, das sagte: nicht mit mir!» Sie beginnt, sich auf das zu fokussieren, was noch funktioniert – und nicht mehr auf das, was nicht mehr geht. Ihr erstes «Projekt»: aus ihrer Wohnung wieder ins Aufnahmestudio zu gehen. Sie übt jeden Tag, bricht oft bereits nach wenigen Treppenstufen zusammen, braucht 20 Minuten, um runterzulaufen. Nach zwei Monaten schafft sie es erstmals, steht vor dem Studio und weint vor Freude. «Das war wie Weihnachten!»
Danach geht es stetig bergauf. Lea Lu kann wieder auftreten und einen normalen Alltag führen – mit Pausen. Bis vergangenen März, als sie sich erneut mit Covid infiziert, wieder drei Monate lang ausfällt und ein Dutzend Auftritte absagen muss. Zum Glück gehts diesmal viel schneller.
Lea geht es heute gut, sie spielt international Konzerte und kann reisen. Trotzdem: Nach einem Auftritt braucht sie jeweils einen Tag Ruhe, ohne jegliche Betätigung. «Manchmal packt mich etwas Wehmut, da gewisse Dinge nicht mehr möglich sind. Ein unbeschwerter Restaurantbesuch oder maskenfreie Gespräche nach einem Konzert.» Zudem mache es sie traurig, dass noch immer viele Betroffene allein gelassen werden. «Es bräuchte Unterstützung vom Staat und vom Gesundheitssystem, finanziell und medizinisch.» Die positive Seite: «Die Schwelle dafür, was ich als Glück empfinde, ist viel tiefer als zuvor. Glück ist, morgens selbständig aufzustehen und mir einen Tee machen zu können. Und wieder auf der Bühne zu stehen. Alles Weitere ist ein Bonus.»