Darum gehts
Sie hinterlässt keine sichtbaren Wunden, aber tiefe Spuren: emotionale Vernachlässigung. In der Schweiz leidet schätzungsweise jedes sechste Kind darunter, dass seine Eltern nicht ausreichend auf seine Gefühle eingehen.
Kinder, die emotionale Vernachlässigung erfahren, haben ein hohes Risiko, psychische Folgen wie Angstzustände, Depressionen oder diverse Verhaltensstörungen zu entwickeln – auch als Erwachsene. Sabine Brunner (58) vom Marie Meierhofer Institut für das Kind erklärt, wie Eltern emotionale Vernachlässigung in der Erziehung erkennen und vermeiden können. Und warum das Gegenteil davon auch keine Lösung ist.
Sabine Brunner, kann emotionale Vernachlässigung wirklich unbewusst stattfinden?
Ja, emotionale Vernachlässigung kann auch liebevollen Eltern passieren. Man ist emotional abwesend, mit anderen Dingen beschäftigt, überfordert, in Gedanken oder unter Stress. In solchen Momenten fehlt die Kapazität, auf das Kind einzugehen.
Passiert das nicht allen Eltern mal?
Eine emotionale Vernachlässigung ergibt sich nicht durch Einzelfälle, sondern durch die Häufigkeit solcher Momente. Jeder Mensch wird in seinem Leben gelegentlich nicht beachtet – das ist normal. Emotionale Vernachlässigung beginnt dort, wenn die Nichtbeachtung zum Muster wird. Nicht selten treten solche Erziehungsmuster auch in Kombination mit körperlicher Vernachlässigung oder Misshandlung auf.
Körperliche Gewalt hinterlässt Spuren, wie kann man emotionale Vernachlässigung erkennen?
Kinder zeigen Rückzug, Wut, Frustration oder entwickeln körperliche oder psychische Symptome. Grundsätzlich merkt man: Das Kind ist nicht im Gleichgewicht. Natürlich kommen solche Phasen in jeder Familie vor – wichtig ist, dass man sie nicht einfach stehen lässt, sondern das eigene Verhalten und die Gesamtsituation immer wieder reflektiert. Was hat das mit mir zu tun? Kann ich verstehen, was im Kind vorgeht? Kann ich mich anders verhalten? Dann versucht man gegenzusteuern, in Kontakt zu kommen, mehr Zuwendung zu geben. Sich als Eltern zu hinterfragen, ist ein wichtiger Schutzfaktor gegen emotionale Vernachlässigung.
Eine Langzeitstudie der Universität Genf und des CHUV Lausanne untersuchte das Einfühlungsvermögen von Müttern mit traumatischer Kindheit. Sie zeigt: Traumatisierte Mütter erkennen die Gefühle ihrer Kinder deutlich schlechter als nicht-traumatisierte. Oft missdeuten sie emotionale Signale, schätzen ihre Kinder negativer ein und erleben deren Gefühle als bedrohlich – weil sie eigene traumatische Erfahrungen triggern. Diese emotionale Überforderung beeinträchtigt ihre Fähigkeit, fürsorglich zu reagieren. Die Kinder entwickeln dadurch häufiger emotionale Auffälligkeiten wie Trotz, Angst oder Depression. Ein stabiles, mitfühlendes Umfeld – auch durch andere Bezugspersonen – kann hier schützend wirken. Sich Hilfe zu suchen, ist zentral: Geht es der Mutter besser, hilft das auch dem Kind.
Eine Langzeitstudie der Universität Genf und des CHUV Lausanne untersuchte das Einfühlungsvermögen von Müttern mit traumatischer Kindheit. Sie zeigt: Traumatisierte Mütter erkennen die Gefühle ihrer Kinder deutlich schlechter als nicht-traumatisierte. Oft missdeuten sie emotionale Signale, schätzen ihre Kinder negativer ein und erleben deren Gefühle als bedrohlich – weil sie eigene traumatische Erfahrungen triggern. Diese emotionale Überforderung beeinträchtigt ihre Fähigkeit, fürsorglich zu reagieren. Die Kinder entwickeln dadurch häufiger emotionale Auffälligkeiten wie Trotz, Angst oder Depression. Ein stabiles, mitfühlendes Umfeld – auch durch andere Bezugspersonen – kann hier schützend wirken. Sich Hilfe zu suchen, ist zentral: Geht es der Mutter besser, hilft das auch dem Kind.
Kann man das Kind auch direkt darauf ansprechen?
Wenn man es damit nicht überfordert, ja. Ich würde zum Beispiel nicht sagen: «Du bist jetzt frustriert!» Sondern eher fragen: «Ich habe gerade eine stressige Phase, wie geht es dir damit?» Zurückhaltend beobachten und dem Kind Raum lassen, aber emotionale Begleitung anbieten. Wie viel Austausch nötig ist, variiert von Mensch zu Mensch. Das ist oft unbewusst verankert und geprägt durch die eigene Erziehung. Es gibt kein generelles Richtig oder Falsch.
Welche Alltagssituationen bergen ein Risiko?
Stress. Vor allem, wenn er chronisch wird. Sobald Eltern über längere Zeit belastet sind, geraten sie in Gefahr, emotional abzuschalten.
Das betrifft in der heutigen Zeit der Mehrfachbelastungen viele Eltern. Man kann ja nicht einfach den Job künden, wenns stressig wird …
Ja, das ist ein Problem. Aber ein Bewusstsein hilft schon mal. Wenn wenig Zeit da ist, sollte man diese möglichst bewusst und innerlich präsent mit dem Kind verbringen. Wichtig ist auch, andere Bezugspersonen zuzulassen und zu fördern, zum Beispiel Grosseltern, Freunde, Nachbarn. So gibt es noch andere Menschen, durch die das Kind emotionale Zuwendung erlebt.
Wie sieht es aus, wenn Aussenstehende etwas bemerken – ist es okay, sich einzumischen?
Man kann nicht eine Diagnose stellen à la «Du vernachlässigst deine Tochter emotional». Aber man darf seine Beobachtungen teilen: «Findest du nicht auch, deine Tochter wirkt sehr abwehrend? Gehts ihr wohl gut?» Und ganz wichtig: Die emotionale Last darf nicht allein auf den Schultern der Eltern liegen. Wir sind eine Gesellschaft – Tanten, Nachbarn, Lehrer, Freundinnen – alle können etwas beitragen.
Wie kann man trotz Stress die emotionale Bindung stärken?
Indem man innerlich Platz schafft fürs Kind. Den Austausch sucht. Fröhliche, lustige Momente zulässt – aber auch Konflikte aushält. Das stärkt die Beziehung.
Gibt es ein Zuviel des Guten?
Es gibt Eltern, die sich extrem bemühen, jede Gefühlsregung des Kindes zu begleiten, ihm alles abzunehmen. Das ist ebenso schädlich wie emotionale Vernachlässigung. Denn es nimmt dem Kind die Möglichkeit, Selbstwirksamkeit zu erleben und mit einer gewissen Autonomie sein Leben zu gestalten.