Darum gehts
- Tantra-Kurse bieten Paaren neue Wege zur Intimität und Verbundenheit
- Neotantra unterscheidet sich vom ursprünglichen indischen Tantrismus
- Teilnehmer in Diana Richardsons Kursen sind zwischen 18 und 80 Jahre alt
Es muss noch etwas anderes geben als den konventionellen Sex: Das war der Gedanke, der Melanie (49) in einen Tantra-Kurs gebracht hat. Gemeinsam mit ihrem Partner Patrick (51) ist das zu einem festen Bestandteil ihrer Beziehung geworden, den sie bewusst pflegen. «Es ist eine Art spiritueller Honeymoon, eine Woche, in der wir ganz für uns und unsere Intimität da sind», erzählt sie.
Hand aufs Herz. Woran denkt Ihr bei Tantra? Sex? Allein das Wort löst meist ein erotisches Kopfkino aus. Ein achtsames Miteinander, eingetaucht in warmes Öl, Mantras und Räucherstäbchen, so eine Art esoterischer Blümchensex. Oder geht es womöglich zu und her wie in einem spirituellen Swingerclub, wo in der Gruppe masturbiert wird? Und war da nicht was mit Anal-Massagen? Tatsächlich kann Tantra sehr vieles sein. Anbieter von Ausbildungen und Workshops sind in der Interpretation der alten indischen Lehre frei. Neotantra, wie es heute genannt wird, hat sich seit den 1970er-Jahren in verschiedenen Kontexten entwickelt: vom explizit Sexuellen bis zu spirituellen Praktiken oder eben für Paare, die ihr Liebesleben bereichern wollen.
Keine spirituellen Gruppen-Orgien
So wie bei Melanie und Patrick. Von spirituellen Gruppen-Orgien sind die beiden weit entfernt. «Nackt ist man in dem Kurs nie. Für Intimes zieht man sich ins private Zimmer zurück.» Das Paar besucht regelmässig den Workshop «Liebe machen» von Diana Richardson. Die Südafrikanerin gehört zu den Pionierinnen des Neotantra, sie bietet seit 30 Jahren Seminare an, früher im Emmental, jetzt auf dem Chlotisberg im Luzerner Seenland. Mitgebracht hat sie die spirituelle Art der Sexualität aus Indien, wo sie zwölf Jahre im Ashram des berühmt-berüchtigten Gurus Bhagwan, später Osho, verbrachte. Er war es, der Mediation mit Sexualität in Verbindung gebracht und damit im Westen populär gemacht hat.
So wild wie in den Hippie-Jahren geht es in den Kursen von Richardson längst nicht mehr zu und her. «Das war eine andere Zeit, in der viel experimentiert und auch viel Schaden angerichtet wurde», sagt sie. In ihren Kursen geht es vielmehr darum, sexuelle Traumas zu heilen, statt weitere auszulösen. Darum seien klare Grenzen und Respekt wichtig: «Die Teilnehmenden müssen sich absolut sicher fühlen, damit sie loslassen und entspannen können. Raus aus dem Kopf und rein in den Körper.» Sie will weg vom gesellschaftlich geprägten Bild der Sexualität, die immer zum Höhepunkt und damit «zu einer Entladung» führt. Es geht um langsamen Sex, wo Energie aufgebaut und erweitert wird: «Mit Achtsamkeit entdeckt man die Feinfühligkeit seines Körpers wieder. Es ist eine andere Art der Ekstase, eine mit mehr Bewusstheit.» In ihren Kursen spricht sie weder von Spiritualität, noch verwendet sie das Wort Tantra: «Es geht ums Liebemachen, es ist etwas sehr Intimes, und dafür arbeite ich ausschliesslich mit Paaren.» Diese sind zwischen 18 und 80 Jahre alt, manche kommen, weil der Sex nach vielen Jahren eingeschlafen ist. Andere wollen schon anfangs der Beziehung etwas für ihr Liebesleben tun.
Einfache Übungen mit Tiefe
Melanie und Patrick waren drei Jahre zusammen, als sie sich für den Workshop entschieden haben, für ihn war es die erste Erfahrung dieser Art. Die Übungen seien einfach, aber gehen in die Tiefe: «Man lernt immer zuerst sich selber zu spüren und wahrzunehmen. In dieser Verbindung zu einem selber und dann zu dem andern schafft man einen heiligen Raum», sagt Melanie. Das könne wunderschön sein, aber auch ans Eingemachte gehen: «Man wird ganz auf sich selbst zurückgeworfen, ist absolut ehrlich miteinander.» Was sie beeindruckt hat, ist, was für ein starker Sensor der Körper ist: «Da sind Emotionen und alte Verletzungen gespeichert. Wenn die hochkommen, muss man damit umgehen können.» Statt wie man es oft im Alltag tut, nämlich Unangenehmem auszuweichen, lässt man solchen Gefühlen bewusst Raum. «Das Handy bleibt beiseite, auch Small Talk mit den anderen Paaren vermeidet man», sagt Patrick. «Es ist wie ein Meditationsretreat, einfach zu zweit.» Für das Paar war die Erfahrung sehr bereichernd: «Es schafft mehr Vertrauen und echte Intimität.» Die Herausforderung sei die Umsetzung im Alltag, beide haben Kinder und Jobs. Dafür machen sie jedes Wochenende ein Date aus, wo mindestens zwei Stunden für ihre Liebe und Intimität reserviert werden.
Was das Paar gemeinsam praktiziert, hat mit dem ursprünglichen Tantrismus nur noch wenig zu tun. Dieser erlebte seine Blütezeit im mittelalterlichen Indien zwischen dem 5. und 10. Jahrhundert, seine Wurzeln reichen jedoch deutlich weiter zurück. Laut dem Yogi und Indologen Rodolphe Milliat, der eines der zentralen Werke zum Tantrismus von B. Bhattacharya übersetzt hat, gehen sie auf archaische Vorstellungen einer göttlichen Mutter zurück. Solche Urbilder finden sich nicht nur in Indien, sondern auch in Kulturen Südamerikas, des Mittelmeerraums, Chinas und des Fernen Ostens.
Verehrung der weiblichen Gottheit
Seither sind die Ausrichtungen im Hinduismus und im Buddhismus sehr vielfältig. Fast immer ist die Verehrung der weiblichen Gottheit zentral: In Indien ist es Shakti. Darstellungen zeigen sie in ewiger Umarmung mit Shiva, die weiblichen und männlichen Prinzipien werden genutzt, um die mystische Vereinigung zu erreichen. Für die spirituelle Verwirklichung ist im Tantra der menschliche Körper zentral: Er gilt als Spiegel des Universums, Mikro- und Makrokosmos sind eines. Daraus entstanden Rituale mit starker sexueller Symbolik oder gar dem Akt zwischen Frauen und Männer. Im Tantrismus wird bewusst mit Tabus gebrochen: Alkohol, Fleisch, Blut, Fisch, Sex. Allerdings nur in kleinsten Mengen und streng kontrolliert nach einer langen Initiation. Manche tantrischen Yogis führen bis heute Rituale an Leichnamen durch, trinken aus Schädeln, essen Fleisch von Verstorbenen, um sich magische Kräfte zunutze zu machen.
Insbesondere die sexuellen Praktiken beflügeln bis heute westliche Fantasien. Die Entwicklung ist ähnlich wie beim Yoga: Es ist eine komplexe spirituelle Praxis, von der nur ein Bruchteil herausgenommen und auf die Bedürfnisse einer modernen Gesellschaft zugeschnitten wird.
Weg von Pornografie
Das muss keineswegs negativ sein. Für Pablo (40) etwa geht es beim Tantra weniger um den Weg zur Erleuchtung, sondern seine persönliche Entwicklung als Mann: «Ich wollte raus aus sexuellen Prägungen, so wie man sie vor allem aus der Pornografie kennt.» Gemeinsam mit seiner Frau Anja (40) besuchte er zunächst einen Kurs bei einem Amerikaner. Dort lernten sie Atemtechniken oder wie man den Beckenboden hält. «Während der Mann trainiert, wie er den Orgasmus zurückhält, soll die Frau mehrfach kommen. Das war für uns aber zu sehr zielorientiert.» Stattdessen landete das Paar nach der Lektüre von Richardsons Buch «Slow Sex» ebenfalls in ihrem Wochenseminar. «Hier geht es einfach ums Sein, man kommt mehr im Herzen an, das ist für uns das Heilsame.»
Für ihn hat es das Verständnis von Sexualität gesprengt. «Das fängt nicht erst im Bett an. Schon die Berührung der Hände kann eine Form von Liebe sein. Unser Umgang im Alltag ist liebevoller geworden.» Gerade als Mann sei es wichtig, Druck und Leistung loszulassen. «Oft geht es beim Sex doch auch darum, Druck abzulassen. Man ist weder bei sich noch bei seiner Partnerin», so Pablo. Ihm ist es wichtig, im Körper wach und im Geist frei zu bleiben von Fantasien und Zielen. Das sei anfangs auch mal frustrierend gewesen: «Wir haben weniger Sex als vorher. Dafür aber viel mehr Tiefe und Verbundenheit gefunden.»
Das Paar hat zwei kleine Kinder. «Das verändert die Sexualität», sagt Anja. Sie hat gelernt, sich und die Signale ihres Körpers besser wahrzunehmen. «Mein Sensorium hat sich verfeinert, und ich spüre meine Grenzen und Bedürfnisse im jeweiligen Moment viel klarer. Dadurch haben sich ganz neue Bereiche eröffnet, die über das stereotype und auch einschränkende Bild von Erregung und Höhepunkt hinausgehen.» Das Paar hat nicht einen Tantra-Kurs besucht, weil es unzufrieden mit seinem Liebesleben war, sondern weil beide mehr Tiefe darin gesucht haben. «Viele Menschen haben Ideen davon, wie tantrischer Sex aussehen soll. Nach meiner Erfahrung geht es vielmehr darum, sich von den eigenen Vorstellungen und festgefahrenen Abläufen zu lösen», sagt Anja. «Mit mehr Bewusstsein schafft man den Boden für eine erfüllte Beziehung.»