Warum es stresst, wenn jemand spontan anruft
Ruf mich bloss nicht an!

Das Telefonverhalten hat sich drastisch gewandelt. Spontane Anrufe gelten heute oft als aufdringlich. Wie Expertinnen den Wandel der Telefon-Kultur deuten.
Publiziert: 20:13 Uhr
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Aktualisiert: 20:45 Uhr
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Ältere Generationen erinnern sich an stundenlange Telefonate an einem möglichst privaten Ort der Wohnung, je nachdem, bis wohin das Kabel reichte.
Foto: Getty Images/Westend61

Darum gehts

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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Heute tragen fast alle ein Telefon bei sich, haben es viele Stunden am Tag in der Hand – doch damit telefonieren wollen die wenigsten. Viele sagen von sich, sie telefonierten ungern. Studien zeigen: Vor allem unter Dreissigjährige empfinden Telefonate oft sogar als stressig, manche haben regelrecht Angst davor. Wer hat nicht schon einen Anruf am stummgeschalteten Telefon «verpasst», nur um nicht etwa zurückzurufen, sondern eilends schriftlich zu fragen: «Was gibts?» 

Früher galt das Telefon als modernstes Kommunikationsmittel: Es war die direkteste Verbindung nach draussen. Erreichbar war man allerdings nur in der Nähe des Festnetzapparats – und nur für jene, die die Nummer kannten. «So gab es regelmässig Phasen der Nichterreichbarkeit», sagt Digitalexpertin Sarah Genner. Selbst als Handys populär wurden, etablierten sich zuerst SMS; mobil telefonieren war noch teuer.

Wer ist am Apparat?

Festnetztelefonie war aus heutiger Sicht sogar richtig abenteuerlich: Lange Zeit zeigte nämlich kein Display, wer anrief. Die Grossmutter aus Übersee, die sich einmal im Jahr telefonisch meldete? Ein Klassengschpänli, das via Kettentelefon die Info weitergab, die Lehrperson sei krank? Oder die Ex-Liebe, die man lieber vermeiden wollte? 

Der Ungewissheit zum Trotz hatte der Klingelton des Telefonapparats einen starken Appell: Manchmal eilten gleich mehrere Familienmitglieder aus verschiedenen Zimmern heraus zum Apparat. Und man nahm einen Anruf sogar dann entgegen, wenn dieser ungelegen kam. Dann vielleicht mit der Begrüssung: «Schärer am Ässe!» 

Das war in Zeiten vor betrügerischen Anrufen von vermeintlichen Polizeibehörden, und Werbeanrufe waren auch noch nicht an der Tagesordnung. Telefonieren ist dadurch nervenaufreibender – oder möglicherweise sogar riskant geworden. Heute löst eine unbekannte Nummer Abwehr aus: Viele drücken solche Anrufe standardmässig weg oder reagieren gar nicht. Könnte ja ein Roboter sein, der Nummern durchtestet, bis jemand sich erbarmt und den Anruf annimmt – dann geht es im besseren Fall um Werbung, im schlechteren um eine Scam-Masche. 

Schriftlich zum Telefontermin

Unverfroren wirkt heute auch, was im Vor-Smartphone-Zeitalter Alltag war: jemanden abends spontan anrufen – und in ein längeres Gespräch verwickeln. «Viele empfinden spontane Telefonate als invasiv, weil sie ohnehin ständig kommunizieren», sagt Sarah Genner. Anrufe, insbesondere mehrere unbeantwortete Anrufe hintereinander, wirken «wie ein modernes SOS», sagt die Dozentin und Autorin, die sich unter anderem mit den Auswirkungen digitaler Medien auf Mensch und Gesellschaft beschäftigt.

Darum fragt man heute meist zuerst schriftlich: Können wir telefonieren? «Wir verbringen erstaunlich viel Zeit damit, Telefontermine schriftlich zu koordinieren», beobachtet Genner. Spontane Anrufe sind fast nur noch in Familien oder engen Freundschaften üblich – und auch da zeigt sich ein Generationengraben.

Neue Verhaltensregeln in der digitalen Kommunikation

Die französische Kommunikationsforscherin Anne Cordier von der Université de Lorraine schreibt in einem Beitrag auf «The Conversation»: «Teenager telefonieren nur in Notfällen oder wenn sie Trost brauchen.» Sie empfänden die Unmittelbarkeit eines Telefonats als stressig und als Kontrollverlust. Für sie wirke ein spontaner Anruf wie ein Verstoss gegen den digitalen Knigge. «Wurde ein Anruf früher als Zeichen der Fürsorge gesehen, so kann er nun als aufdringlich empfunden werden», sagt Cordier. Nimmt ein Teenager einen Anruf nicht an, sei das nicht als Zurückweisung zu verstehen, sondern als Ausdruck neuer Verhaltensregeln.

Heisst das, wir verlieren die Fähigkeit zur spontanen, direkten Kommunikation? «Nein», sagt Genner. Die Form der spontanen Kommunikation habe sich vielmehr erweitert: Sprachnachrichten und Live-Fotos seien die Telefonate 2.0. «Gerade junge Menschen nutzen diese Kanäle intensiv – mit mehr Kontrolle über den Zeitpunkt.» Die Spontaneität der direkten Kommunikation laufe über diese neuen Kanäle weiter. 

Einer Vielzahl an neuen Kommunikationstools zum Trotz verschwindet das Telefon aber nicht. «Im Zeitalter der stressfördernden Dauererreichbarkeit wird es zu einem bewusst gewählten Instrument – für wichtige oder intime Gespräche», sagt Sarah Genner. Und vielleicht erlebt der einfache Anruf irgendwann sogar ein Comeback: In Zeiten digitaler Informationsflut könnte seine Einfachheit wieder an Reiz gewinnen.

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