Steinböcke verlieren ihr Zuhause
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Wegen dreister Touristen:Steinböcke verlieren ihr Zuhause

Steinwildzählung zeigt
Selfie-Touristen verdrängen Wildtiere am Muttenchopf

Tausende Wanderer pilgerten die vergangenen Jahre für das perfekte Selfie auf den Muttenchopf in den Glarner Alpen. Unterwegs mit Wildhüter Samuel Gantner, der jährlich das Steinwild zählt.
Publiziert: 17:11 Uhr
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Samuel Gantner will mit der Steinwild-Zählung zeigen, welchen Einfluss Selfie-Touristen auf die Wildtiere am Muttenchopf im Kanton Glarus haben.
Foto: Kim Niederhauser

Darum gehts

  • Steinwildzählung in Glarus zeigt Einfluss des Tourismus auf Tiere
  • Wildhüter beobachten Verhaltensänderungen bei Steinböcken und Geissen
  • 114 Steinböcke gezählt, Zahl der Touristen hat sich seit 2018 vervierfacht
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.

5.45 Uhr, Talstation Tierfed, in der hintersten Ecke des Kantons Glarus bei Linthal. Fünf Männer, eine Frau und vier Bayerische Gebrigsschweisshunde warten im Kreis auf dem leeren Parkplatz. Die Bergschuhe eng gebunden, der Feldstecher um den Hals. Die Gruppe um Wildhüter Samuel Gantner (58) will herausfinden, wie viel Steinwild in der Region Muttenalp lebt und wo genau. Denn: Diese Mission soll zeigen, welchen Einfluss der Mensch mit Sack und Pack auf die Tiere hat.

Das Gondeli, vollgepackt mit Mensch und Hund, nimmt Fahrt auf. Steil den Hang hoch bis zum Chalchtrittli auf knapp 1900 Metern über Meer. Diese Bahn, ursprünglich gebaut für den Bau der Staumauern, dient heute den Touristen. Über 17'500 Tickets verkaufte die Betreiberin Axpo im Jahr 2023. Das sind viermal mehr Tickets als noch 2018. Letztes Jahr beförderte die Bahn wegen schlechten Wetters weniger Menschen: 13’200 Billette wurden gelöst.

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Frühmorgens erreichen Wildhüter Samuel Gantner und seine Zähler mit einer Spezialfahrt die Bergstation Chalchtrittli auf 1900 Meter über Meer. Im Vergleich zu 2018 fahren viermal mehr Touristen mit der Gondelbahn hoch.
Foto: Kim Niederhauser

Oben eine letzte Absprache und Instruktion durch den Wildhüter. Jeder nimmt einen anderen Weg. Sternförmig wandern die Bergler Richtung Muttenalp. Nutzenbrunnen, Mörtel, Ochsenblanggen oder Nüschentäli heissen die Seitentäler, Hänge und Matten hier oben. Diese Zonen im Revier wollen sie durchkämmen, um möglichst viel Steinwild gleichzeitig zählen zu können.

200 Steinböcke und Geissen leben hier

Feines Geröll und Schiefer erschweren den Gang auf dem noch feuchten Boden. Jeder Schritt muss sitzen, denn das Gelände ist steil und fernab vom präparierten Wanderweg. Mit der Leichtigkeit eines Steinbocks spaziert Wildhüter Gantner den Hang hoch. Links hängt sein Feldstecher an der Schulter, rechts die Hundeleinen. Hündin Anny (4) und der viermonatige Welpe Dina begleiten ihn.

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Auf einem Blatt mit einer noch leeren Tabelle steht Gantners Auftrag. Es ist seine 23. Zählung. Bock, Geiss, Jungtiere, Kitz: Er soll die gesichtete Anzahl der Tiere und deren Altersklasse notieren. «Da brauche ich Geduld und Ruhe», erklärt er und scannt mit seinem Feldstecher das Gelände. «Eins, zwei, drei, vier, fünf», zählt er auf dem Ochsenblanggen, 2300 Meter über Meer. Unten das steile Limmerntobel, oben die Muttenwand. Er sieht Steingeissen, rund 200 Meter entfernt. In der ganzen Region leben rund 200 Steinböcke und Steingeissen. Sie sind Teil der Steinbockkolonie Oberalp-Tödi-Calanda. Dass Gantner und seine Kollegen heute nicht alle sehen werden, sei zu erwarten. «Wenn wir 90 bis 120 Exemplare sehen, wäre das gut», sagt er.

Was Samuel Gantner die vergangenen Jahre an diesem Berg beobachtet hat und wem er begegnet ist, macht ihn unruhig. Auf der vierstündigen Wanderung spricht er immer wieder von respekt- und rücksichtslosen «Social-Media-Touristen». Das seien keine Bergtouristen. Sie hätten nur eins im Kopf: das bekannte Bild vom Muttenchopf mit dem hellblau schimmernden Limmernsee im Hintergrund, direkt aus dem Campingzelt. Er sagt: «Wenn wir das nicht in den Griff kriegen, haben wir ein Problem.» Sprich: Mensch verdrängt Tier.

Dessen sind sich die Glarner Politiker unten im Tal bewusst. Sie lancierten Anfang Sommer eine Sensibilisierungskampagne – für einen «nachhaltigen» Tourismus. Seit Juni 2025 sind das Wildcampen, Biwakieren oder Drohnenflüge verboten. Auch um den Limmernsee und Muttenchopf stehen seit wenigen Tagen neue, noch glänzende Verbotsschilder. Darauf steht: Wer sich dem widersetze, kann mit einer Busse von bis zu 2000 Franken bestraft werden.

Busse oder Kampagne?

Damit ein Verbot zielführend ist, sei ein umfassendes Konzept notwendig, erklärt Umweltingenieur Martin Wyttenbach (46) von der ZHAW. Er leitet die Forschungsgruppe Umweltplanung und befasst sich mit Mensch-Tier-Interaktionen in der Schweiz. «Im alpinen Gebiet haben Flora und Fauna Priorität – sensible Gebiete und Phasen erfordern Rücksicht.» Weil der Mensch immer auch ein Störfaktor sein könne, seien auch Lenkungsmassnahmen und die Sensibilisierung der Wanderer nötig. Ein Campingverbot hilft den Wildtieren und bietet ihnen eine beschränkte Phase der Ruhe. Aber: «Menschen wollen und sollen in die Natur – das dient der Erholung.»

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Bock, Geiss, Kitz: Wildhüter Gantner soll die gesichtete Anzahl und deren Altersklasse erfassen.
Foto: Kim Niederhauser

Alpenrose, Edelweiss, Enzian – wo bis vor kurzem noch Schnee lag, blüht Ende Juni der Frühling auf. Bis es das Steinwild äst. Gantner schaut in die Wand hinunter und zählt: «Zehn, elf, zwölf und zwei liegen da drüben. Alles Böcke – oder wie wir sagen: Touristen-Böcke.» Sie liegen nur wenige Meter vom Wanderweg. Geissen und Kitze entdeckt Gantner hier nicht – zu viel Rummel. «Sie reagieren viel stärker auf Störungen und weichen», erklärt der Glarner. Nur weil Böcke hier ästen, bedeute das nicht, dass Menschen sie nicht störten. «In einem Monat, wenn massenweise Wanderer hier sind, ziehen sich auch die Steinböcke zurück».

Wanderer verdrängen Wildtiere

12.45 Uhr, Muttseehütte, 2500 Meter über Meer. Cornel Ledergerber (54), seit zwei Wochen Hüttenwart, serviert dem Wildhüter und seinen fünf Zählern Fleischkäse und Kartoffelstock. Was den Wildhüter beschäftigt, beobachtete Ledergerber in den vergangenen Tagen bereits mehrmals. «Trotz Verbotsschild ignorierten verschiedene Touristengruppen die Regeln – auch letzte Nacht», sagt der ehemalige Ostschweizer Polizist. Sein Auftrag: Potenzielle Wildcamper ansprechen und informieren. Er rapportiert regelmässig an die Gemeinde, was am Berg läuft. Aber: «Den Bergpolizisten spiele ich nicht.»

Das Bussenblöckli lässt auch Wildhüter Samuel Gantner vorerst im Tal. Aber: «Wer trotz Verbot sein Zelt aufbaut, den nehme ich mir zur Brust oder verzeige renitente Touristen.»

Die Mission ist beendet; Zeit, Bilanz zu ziehen. Nutzenbrunnen, Mörtel, Ochsenblanggen oder Nüschentäli zählen die Glarner auf, immer mit den nötigen Angaben. 114 Exemplare zählten die sechs seit dem frühen Morgen am Berg. Die Zahl beunruhigt Gantner nicht. Es ist etwas anderes, was ihn feststellen lässt: «Das gab es die letzten Jahre nie.» Nämlich die Orte der Sichtungen. Die Geissen, Steinböcke und Kitze grasen heute anderswo. «Wir stellen fest, dass die Tiere ihr Verhalten und ihre Orte änderten.» Das sei problematisch, weil Stress und eine längere Futtersuche damit einhergingen und die Tiere geschwächt überwintern müssten. Schuld daran: Menschen, die in immer grösserer Zahl in die Lebensräume der Tiere eindringen. Auf der Jagd nach dem perfekten Bild verdrängt der Mensch das Tier.

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