Plastikmöbel, Buddha-Tempel, Kräuter-Lädeli
Abgeschottet im Gucci-Ghetto – so leben die Chinesen in Prato

Mitten in der Toskana leben 38'000 Chinesen in einer Art Enklave, mit eigenen Regeln und Problemen. Sie arbeiten in Textilfabriken, integrieren sich kaum. So wie die Zürcher Casino-Betrüger. Blick ging auf Spurensuche.
Publiziert: 00:25 Uhr
|
Aktualisiert: vor 11 Minuten
Der buddhistische Tempel in Prato.
Foto: Helena Graf

Darum gehts

Die Zusammenfassung von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast.
RMS_Portrait_AUTOR_235.JPG
Helena GrafReporterin

Chen Schukin kniet vor einer goldenen Buddha-Statue. Der Altar ist mit Früchten und Räucherstäbchen dekoriert. Schukin ist Nonne im buddhistischen Tempel. Aber nicht in Shanghai oder Peking. Nein, in Prato, mitten in der Toskana. Es ist der grösste buddhistische Tempel in Italien. Hier schlägt das spirituelle Herz der chinesischen Gemeinde, die fast ein Fünftel der Stadtbevölkerung ausmacht.

Hierhin führt die Spur der elf Chinesen, die das Casino Zürich um 140'000 Franken betrogen haben. Die Casino-Trickser arbeiteten in der Textilindustrie von Prato. Die «Izzy»-Redaktion rekonstruierte den Betrug in einem Film, sprach mit Mitarbeitern des Casinos und zeigte exklusiv vorliegendes Material der Überwachungskameras. Doch wie leben die Prato-Chinesen in ihrer Enklave, in ihrem «Chinatown», in der toskanischen Stadt? Blick war vor Ort. 

Verbindungen zur Regierung in Peking

Den Buddha-Tempel gibt es schon seit 15 Jahren. «Uns bedeutet dieser genauso viel, wie den Italienern ihre Kirche», sagt Chen Schukin. An grossen Feiertagen wie dem chinesischen Neujahr kommen bis zu 6000 Besucher. Buddhistische Grossevents in Italien – von der Regierung in Peking mitfinanziert.

Das Inventar des Restaurants über dem Marktplatz sieht hochwertig aus – ist aber überwiegend aus Plastik.
Foto: Helena Graf

Derzeit leben etwa 38'000 Chinesen in Prato – zurückgezogen in ihrem Quartier Chinatown. Die meisten von ihnen arbeiten in der Textilindustrie, sprechen kein Italienisch. So auch der Haupttäter im Fall des Zürcher Casinobetrugs. «Er war offenbar sehr eingebunden unter seinen Landsleuten», erklärt sein Anwalt im Gespräch mit «Izzy».

Chinatown ist ein Mikrokosmos: Restaurants mit Plastikmöbeln, Supermärkte voller importierter Tiefkühlware, Apotheken, die neben Aspirin Kräuter verkaufen.

Leonardo Delfanti steigt die goldenen Treppenstufen eines Restaurants hoch. Grüne, lederartige Sofas, runde Tische mit Grill, Plastikgeschirr in Keramikoptik. «Vor einem Jahr war die Einrichtung noch total anders», erzählt Delfanti, der Prato als Investigativjournalist zum zweiten Mal besucht. «In Chinatown geht alles schneller. Läden öffnen, schliessen. Die Menschen kaufen billige Einwegmöbel – sind jederzeit bereit, ihre Koffer zu packen und abzureisen.»

Laut dem Immobilienmakler Alessandro Ceresi (61) wollen Italiener nicht in Chinatown wohnen.
Foto: Helena Graf

Eine Mentalität, die vielen Einheimischen widerstrebt. Immobilienmakler Alessandro Ceresi (61) erklärt: «Meine italienischen Kunden sind meist nicht an Immobilien in Chinatown interessiert. Es ist ihnen dort zu schmutzig, der Umgang zu unhöflich.»

Krumme Geschäfte

Blick besucht grössten buddhistischen Tempel Italiens
1:41
«Sprechen kein italienisch»:Blick besucht grössten buddhistischen Tempel

Hinzu kommt die Kriminalität. Zahlreiche chinesische Mafia-Clans sind in Prato aktiv. Ständig finden Polizeirazzien statt. Es kommt zu Schlägereien und Brandanschlägen. Überall laufen krumme Geschäfte.

Ein Reisebüro nahe dem Markt wirbt auf Chinesisch für Kurztrips in die Dolomiten, Mittelmeerkreuzfahrten und geführte Reisen durch die Türkei: Angebote, die nie gebucht werden. «Wir organisieren eigentlich nur Familienbesuche aus oder nach China», murmelt einer der Angestellten.

Eine Reklame in einem Reisebüro in Chinatown.
Foto: Helena Graf

Die Polizei deckte in den letzten Jahren zwei grosse kriminelle Netzwerke auf, die ihr Geld über Reiseveranstalter wuschen. Die einheimische Bevölkerung sorgt sich wegen der chinesischen Mafia, die Migranten in Chinatown leben damit. 

Federica Tagliabue unterrichtet Italienisch an einer Privatschule im chinesischen Distrikt. Sie mache sich Sorgen um ihre Schüler, grösstenteils Teenager, erzählt sie. «Sie sind hier völlig allein. Ihre Eltern arbeiten jeden Tag, sind ihnen oft fremd.»

Chinesen ausgeraubt

Liu Shan (l.) und Federica Tagliabue leiten zusammen eine private Sprachschule in Chinatown.
Foto: Helena Graf

Es sei fast unmöglich, die Kinder in öffentlichen Schulen unterzubringen – trotz Schulpflicht. «Sie verbringen die meiste Zeit am Handy. Wenn ich sie am Montagmorgen frage, was sie am Wochenende unternommen haben, schauen sie mich nur mit leeren Blicken an.»

Die Strassen von Chinatown sind gefährlich. Immer wieder werden Chinesen überfallen, weil sie ihr Geld oft in bar bei sich haben. Tagliabues Kollegin Liu Shan wurde schon mehrfach ausgeraubt. «Sie spricht Italienisch, konnte immerhin Anzeige erstatten. Die Polizei hat nämlich keine Übersetzer.»

1/17
Chen Schukin, Nonne im buddhistischen Tempel von Prato, sagt: «Für uns ist der Tempel genauso wichtig wie die Kirche für die Italiener.»
Foto: Helena Graf

Den Kindern bleibe oft nur eine Perspektive: Kleider nähen – oft in derselben Fabrik wie die Eltern. Viele bleiben in Chinatown, ohne je eine andere italienische Stadt zu besuchen. Sie arbeiten viel, sparen ihren Lohn, um sich den Lebensabend in China zu finanzieren. Prato – für sie wie ein jahrzehntelanger Zwischenhalt.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?