Darum gehts
Chen Schukin kniet vor einer goldenen Buddha-Statue. Der Altar ist mit Früchten und Räucherstäbchen dekoriert. Schukin ist Nonne im buddhistischen Tempel. Aber nicht in Shanghai oder Peking. Nein, in Prato, mitten in der Toskana. Es ist der grösste buddhistische Tempel in Italien. Hier schlägt das spirituelle Herz der chinesischen Gemeinde, die fast ein Fünftel der Stadtbevölkerung ausmacht.
Hierhin führt die Spur der elf Chinesen, die das Casino Zürich um 140'000 Franken betrogen haben. Die Casino-Trickser arbeiteten in der Textilindustrie von Prato. Die «Izzy»-Redaktion rekonstruierte den Betrug in einem Film, sprach mit Mitarbeitern des Casinos und zeigte exklusiv vorliegendes Material der Überwachungskameras. Doch wie leben die Prato-Chinesen in ihrer Enklave, in ihrem «Chinatown», in der toskanischen Stadt? Blick war vor Ort.
Verbindungen zur Regierung in Peking
Den Buddha-Tempel gibt es schon seit 15 Jahren. «Uns bedeutet dieser genauso viel, wie den Italienern ihre Kirche», sagt Chen Schukin. An grossen Feiertagen wie dem chinesischen Neujahr kommen bis zu 6000 Besucher. Buddhistische Grossevents in Italien – von der Regierung in Peking mitfinanziert.
Derzeit leben etwa 38'000 Chinesen in Prato – zurückgezogen in ihrem Quartier Chinatown. Die meisten von ihnen arbeiten in der Textilindustrie, sprechen kein Italienisch. So auch der Haupttäter im Fall des Zürcher Casinobetrugs. «Er war offenbar sehr eingebunden unter seinen Landsleuten», erklärt sein Anwalt im Gespräch mit «Izzy».
Chinatown ist ein Mikrokosmos: Restaurants mit Plastikmöbeln, Supermärkte voller importierter Tiefkühlware, Apotheken, die neben Aspirin Kräuter verkaufen.
Leonardo Delfanti steigt die goldenen Treppenstufen eines Restaurants hoch. Grüne, lederartige Sofas, runde Tische mit Grill, Plastikgeschirr in Keramikoptik. «Vor einem Jahr war die Einrichtung noch total anders», erzählt Delfanti, der Prato als Investigativjournalist zum zweiten Mal besucht. «In Chinatown geht alles schneller. Läden öffnen, schliessen. Die Menschen kaufen billige Einwegmöbel – sind jederzeit bereit, ihre Koffer zu packen und abzureisen.»
Eine Mentalität, die vielen Einheimischen widerstrebt. Immobilienmakler Alessandro Ceresi (61) erklärt: «Meine italienischen Kunden sind meist nicht an Immobilien in Chinatown interessiert. Es ist ihnen dort zu schmutzig, der Umgang zu unhöflich.»
Krumme Geschäfte
Hinzu kommt die Kriminalität. Zahlreiche chinesische Mafia-Clans sind in Prato aktiv. Ständig finden Polizeirazzien statt. Es kommt zu Schlägereien und Brandanschlägen. Überall laufen krumme Geschäfte.
Ein Reisebüro nahe dem Markt wirbt auf Chinesisch für Kurztrips in die Dolomiten, Mittelmeerkreuzfahrten und geführte Reisen durch die Türkei: Angebote, die nie gebucht werden. «Wir organisieren eigentlich nur Familienbesuche aus oder nach China», murmelt einer der Angestellten.
Die Polizei deckte in den letzten Jahren zwei grosse kriminelle Netzwerke auf, die ihr Geld über Reiseveranstalter wuschen. Die einheimische Bevölkerung sorgt sich wegen der chinesischen Mafia, die Migranten in Chinatown leben damit.
Federica Tagliabue unterrichtet Italienisch an einer Privatschule im chinesischen Distrikt. Sie mache sich Sorgen um ihre Schüler, grösstenteils Teenager, erzählt sie. «Sie sind hier völlig allein. Ihre Eltern arbeiten jeden Tag, sind ihnen oft fremd.»
Chinesen ausgeraubt
Es sei fast unmöglich, die Kinder in öffentlichen Schulen unterzubringen – trotz Schulpflicht. «Sie verbringen die meiste Zeit am Handy. Wenn ich sie am Montagmorgen frage, was sie am Wochenende unternommen haben, schauen sie mich nur mit leeren Blicken an.»
Die Strassen von Chinatown sind gefährlich. Immer wieder werden Chinesen überfallen, weil sie ihr Geld oft in bar bei sich haben. Tagliabues Kollegin Liu Shan wurde schon mehrfach ausgeraubt. «Sie spricht Italienisch, konnte immerhin Anzeige erstatten. Die Polizei hat nämlich keine Übersetzer.»
Den Kindern bleibe oft nur eine Perspektive: Kleider nähen – oft in derselben Fabrik wie die Eltern. Viele bleiben in Chinatown, ohne je eine andere italienische Stadt zu besuchen. Sie arbeiten viel, sparen ihren Lohn, um sich den Lebensabend in China zu finanzieren. Prato – für sie wie ein jahrzehntelanger Zwischenhalt.