Darum gehts
Die Fabrikhalle zieht sich vierhundert Meter der Strasse entlang. Fassaden aus Marmor, der in der Morgensonne glitzert. Verspiegelte Fenster, dahinter moderne Kleiderläden. Es wirkt wie Mailand, wie Luxus. Angelo* parkiert den Streifenwagen vor dem zweitletzten Geschäft. Wir steigen aus. Die Polizisten marschieren auf den Eingang zu. Ich klopfe gegen die Fassade – klingt hohl. Der Marmor entpuppt sich als Plastik. Die Einkaufsmeile – nichts als Kulisse.
Blick ist mit dabei auf Polizeirazzia in Prato, einer 200'000-Einwohner-Stadt nahe Florenz. Hier haben die Zürcher Casino-Betrüger gelebt, bevor sie in die Schweiz gekommen sind. Die «Izzy»-Redaktion zeigte, wie die Chinesen vorgegangen sind – auch anhand exklusiven Videomaterials der Casino-Überwachungskameras. Wie die meisten der 38'000 Chinesen in der Stadt arbeiteten die Casino-Trickser in der Textilbranche. Einer wird auf dem Strafbefehl der Zürcher Justiz als «Warentransporteur» betitelt, ein anderer als «Inhaber einer Kleiderfabrik». Blick begab sich auf Spurensuche.
Lärm und Dreck
Prato ist seit jeher einer der wichtigsten Standorte der Kleiderindustrie in Italien. Heute haben chinesische Firmen 90 Prozent der Werke übernommen.
Die ersten Chinesen kamen vor 40 Jahren nach Prato. «Sie kauften ein Haus, unterteilten es in kleine Arbeiterunterkünfte», erklärt Angelo. «Die Nachbarn störten sich am Lärm, verkauften ihre Wohnungen günstig an Neuankömmlinge aus China. So entstand ein Dominoeffekt.» Heute machen sie fast ein Fünftel der Stadtbevölkerung aus.
Im Fake-Marmor-Quartier betreten die Polizisten ein Modegeschäft. Sie nehmen T-Shirts von der Kleiderstange, befummeln den Stoff. Die Verkäuferin am Tresen ist Italienerin. «Doch ihr Boss ist Chinese», sagt Angelo.
«Bedrohung für Modenation»
Die chinesischen Arbeiter gründeten bald eigene Firmen – und wurden von Luxusmarken wie Dior und Armani als günstige Subunternehmen engagiert. Rund die Hälfte der einheimischen Arbeiter verloren über die Jahre ihre Jobs. Heute produzieren die meisten chinesischen Unternehmen in Prato Billigmode. Label: «Made in Italy».
Enrico Blandini, Leiter der Finanzpolizei in Prato, sagt zu Blick: «Diese Firmen sind eine Bedrohung für Italien als Modenation.» Die Wirtschaftskriminalität floriere. «Das sind mafiöse Strukturen.»
Gang-Schlägereien
Wir fahren zurück Richtung Zentrum, halten im Westen von Prato. Diesen Stadtteil rund um die alten Textilfabriken nennen die Einheimischen Chinatown. Geschäfte, Restaurants, Apotheken – alles ist auf Chinesisch angeschrieben. In einer der Bars wirbelt Maia* zwischen Kaffeemaschine und E-Zigaretten hin und her. Ihre Kunden können kein Italienisch, sie hat sich einige chinesische Begriffe beigebracht.
«Ich fühle mich hier nicht sicher», sagt Maia. «Schon mehrmals haben sich Gangs vor der Bar geprügelt. Es ist gefährlich hier, vor allem in der Dunkelheit.» Seit 2023 tobt in Prato die «Guerra delle grucce», der Kleiderbügel-Krieg. Chinesische Mafiaclans kämpfen um die Vorherrschaft im Kleiderbügelgeschäft. Sie verüben Brandanschläge, versenden Paketbomben.
Mafia-Doppelmord
Mitte April wurde ein chinesisches Paar in Rom mit mehreren Kopfschüssen hingerichtet. Die Ermittler führen den Doppelmord auf den Kleiderbügel-Krieg zurück. Der Mann war selbst Angehöriger der Textilmafia, hätte demnächst in einem grossen Gerichtsprozess aussagen müssen.
Die Finanzpolizei versucht, die Lage mit Kontrollen in den Griff zu bekommen. «In diesem Jahr haben wir 486 Personen angezeigt», erklärt Blandini.
Mehrwertsteuer-Betrug, Steuerhinterziehung, Schmuggel und Menschenhandel seien häufige Delikte. Die Arbeitsbedingungen in den chinesischen Fabriken – katastrophal. «Die Menschen sitzen teils zwölf Stunden ohne Pause an der Nähmaschine, ohne Sicherheitsstandards.»
Anonyme Werkstätte
Die alten Fabrikgebäude im Westen der Stadt bröckeln vor sich hin. Demolierte Autos und Müllsäcke versperren die engen Strassen. Nur das leise Surren der Nähmaschinen verrät: Hier drinnen wird gearbeitet.
Der Anwalt des Casino-Haupttäters schilderte gegenüber «Izzy» die Arbeitsbedingung seines Klienten: «Er hat zwischen 1000 und 2000 Euro pro Monat verdient und war offenbar unter Landsleuten. Italienisch konnte er keines.»
Die Tür zu einer der Werkstätten im Herzen von Chinatown steht offen. Wir treten ein, fragen, ob wir uns umsehen dürfen. Zwischen meterhohen Stapeln aus Stoff und Kleidung sitzen die Arbeiter an kleinen Tischen; die Luft ist stickig, das Licht aus den Deckenröhren grell. Niemand versteht uns. Ein Mann schickt uns mit einer Handbewegung raus und schliesst die Tür.
Wir stehen wieder draussen. Kein Schild, kein Name, eine anonyme Werkstatt, eine von Hunderten. Es riecht nach Öl und Plastik. Von «Made in Italy» bleibt hier wenig – ausser dem Etikett.
* Namen geändert